Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt/Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 24/2022 vom 25.11.2022
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Sachverhalt
Die Beteiligten streiten über die Vergütung von stationären Behandlungen im Rahmen einer Studie. Der bei der beklagten Krankenkasse Versicherte, an einem inoperablen Leberkarzinom erkrankte Patient, wurde im Jahr 2011 in vier stationären Aufenthalten im zugelassenen Krankenhaus der Klägerin im palliativen Arm einer Studie behandelt. Während des ersten stationären Aufenthalts im Januar 2011 erfolgte eine selektive Embolisation mit Metallspiralen zur Vorbereitung der im Rahmen dieser Phase II-Studie durchgeführten – nur stationär zulässigen – selektiven intravaskulären Radionuklidtherapie (SIRT). Zwei stationäre SIRT-Behandlungen fanden im Januar und Februar 2011 in Kombination mit einem zugelassenen Medikament statt. Letzteres erhielt der Versicherte auch außerhalb der stationären Aufenthalte als Dauermedikation. Allein diese medikamentöse Therapie war die anerkannte Standardtherapie, die ambulant durchgeführt wird. Die Medikamentengabe musste wegen Nebenwirkungen im Juni 2011 beendet werden. Die vierte im Rahmen der Studie durchgeführte stationäre SIRT erfolgte vom 26. bis 29.10.2011.
Die beklagte Kasse beglich die Rechnung des Krankenhauses zunächst und leitete jeweils eine Begutachtung durch den MDK ein. Dieser wies darauf hin, dass die Studienbehandlung ein experimentelles Verfahren darstelle. Daraufhin verrechnete die beklagte Kasse die geleisteten Rechnungsbeträge für den zweiten bis vierten Aufenthalt in voller Höhe mit unstreitigen Forderungen des Krankenhauses, insgesamt 56.642,25 EUR. SG und LSG weisen die Klage ab (dazu Schäfer-Kuczynski, FD-SozVR 2021, 442556). Dagegen richtet sich die Revision des Krankenhauses, dass eine Verletzung des § 8 Abs. 1 Satz 2 KHEntgG rügt. Maßgeblich sei allein, dass der Versicherte im Rahmen einer klinischen Studie stationär behandelt worden sei.
Entscheidung
Das BSG weist die Revision i.H.v. 38.040,20 EUR betreffend die zweite und dritte Behandlung als unbegründet zurück. Hinsichtlich der vierten Behandlung im Oktober 2011 wird der Rechtsstreit zurückverwiesen, um zu klären, ob für die Versorgung des Versicherten nach Beendigung der Behandlung mit dem anerkannten Arzneimittel eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung noch zur Verfügung stand und ob SIRT als angewandte Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bot. Dabei ist nach dem Hinweis des Senats eine abstrakte und konkrete Chance-/Nutzen-Abwägung vorzunehmen (dazu BSG, BeckRS 2006, 43402).
Praxishinweis
1. Nach § 8 Abs. 1 Satz 2 KHEntgG sind bei Patienten, die im Rahmen einer klinischen Studie behandelt werden, die Entgelte für allgemeine Krankenhausleistungen nach § 7 KHEntgG zu berechnen. Dies gilt auch bei klinischen Studien mit Arzneimitteln. Der erste Senat betont, dass sich daraus kein Anspruch dem Grunde nach ergibt. Als Entgeltregelung normiert § 8 Abs. 1 Satz 2 KHEntgG ausschließlich, in welcher Höhe eine stationäre Behandlung mit Studienteilnahme zu vergüten ist. Voraussetzung ist immer, dass wegen der Erkrankung eine stationäre Behandlung i.S.d. § 39 SGB V erforderlich ist. Die Notwendigkeit der stationären Behandlung kann sich aber nicht allein daraus ergeben, dass der Patient im Rahmen einer Studie behandelt wird.
2. Daran ändert auch § 137c Abs. 2 Satz 2 SGB V nichts. Danach darf ab dem Inkrafttreten einer Richtlinie über den Ausschluss einer Untersuchungs- und Behandlungsmethode eine solche im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht mehr zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden. Davon macht aber der zweite Halbsatz eine Ausnahme, indem er formuliert, dass die Durchführung klinischer Studien davon unberührt bleibt. Die Durchführung der klinischen Studie kann also auf Kosten der Kasse erfolgen – immer vorausgesetzt, dass wegen des Krankheitszustandes die stationäre Behandlung notwendig ist und nicht allein wegen der Teilnahme an einer Studie.
3. Nach § 137c Abs. 3 SGB V dürften neue Untersuchungs-/Behandlungsmethoden dann angewandt und beanspruch werden, wenn sie das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten. Hier ging es jedoch um eine Behandlung im Jahre 2011. Damals galt diese neue Vorschrift noch nicht (dazu BSG, FD-SozVR 2021, 441806 m. Anm. Plagemann; Deister/Felix, MedR 2022, 1).
4. Ströttchen (GuP 2022, 167) diskutiert den Einfluss des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 (BeckRS 2005, 31260) auf die aktuell durchaus relevanten Debatten um eine Rationierung bzw. Priorisierung, auch im Hinblick auf den mit Beiträgen kaum noch zu finanzierenden Kostenanstieg,
BSG, Urteil vom 22.06.2022 - B 1 KR 25/21 R, BeckRS 2022, 30358