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Keine Robo-Richter in Estland
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Wer die juristische Begleitdebatte in Deutschland zum KI-Einsatz in der Justiz verfolgt, dem wird früher oder später die Geschichte vom Robo-Richter in Estland begegnen. Erzählt wird diese teils mit einer gewissen Bewunderung, teils aber auch mit einem gewissen Grauen als Beispiel für etwas Drohendes. Aber trifft diese Geschichte überhaupt zu?

10. Sep 2021

Wir alle kennen die eine oder andere urbane Legende. Solche Legenden entstehen, wenn jemand eine Geschichte erzählt, die eine gewisse Plausibilität für sich hat. Danach wird diese Geschichte weitererzählt, weil auch andere sie für plausibel halten. Wenn dann auch noch eine Bestätigung durch Personen mit Autorität oder gar die Wissenschaft hinzu kommt, nehmen fast alle solche Geschichten schließlich für bare Münze. Das Phänomen ist nicht ganz neu, aber in Internetzeiten besonders wirkmächtig. Die Römer sprachen von „fama crescit eundo“. Alle Charakteristika für urbane Legenden sind beim Erzählen der Geschichte vom Robo-Richter in Estland zu beobachten.

Wie die Geschichte begonnen hat

Den Anfang bildete am 25.3.2019 ein Artikel in „Wired“ mit der Überschrift: „Can AI Be a Fair Judge in Court? Estonia Thinks So.“ Darin wurde berichtet, man habe in Estland ein Gerichtsverfahren etabliert, in dem bei Streitwerten von bis zu 7.000 Euro ohne menschliche Mitwirkung eine künstliche Intelligenz eine Entscheidung träfe. Der Deutschlandfunk griff diese Geschichte zeitnah am 27.3.2019 in einer Sendung mit dem Titel „KI-Richter in Estland fällt Urteile per Algorithmus“ auf.

Seitdem wird diese Story in Deutschland im Umfeld der juristischen KI-Debatte vielfältig kolportiert. Kaum ein illustrer Name fehlt (auf die Nennung wird hier aus naheliegenden Gründen verzichtet). Am Ende kamen schließlich noch die Weihen durch den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags hinzu. Dieser erstattete mit Datum vom 1.3.2021 ein Gutachten zum Thema „Sachstand: Künstliche Intelligenz in der Justiz – Internationaler Überblick“ (WD 7 – 3000 – 017/21) und berichtete am Ende vom KI-basierten Programm in Estland, das „autonom“ entscheiden und dadurch die Justiz entlasten solle. Als Beleg – da schließt sich der Kreis – wurde auf die Sendung des Deutschlandfunks verwiesen.

Soll man diese Geschichte nun glauben? Bei allem schuldigen Respekt für den Deutschlandfunk: Als Beweis für die Existenz eines Robo-Richters in Estland genügt der Hinweis auf eine Radiosendung nicht. Sie kann allenfalls der Anlass sein, entsprechenden Fragen durch weitere Recherchen nachzugehen.

Was Estland dazu sagt

In diesem Sinne liegt der Gedanke nahe, beispielsweise beim Justizministerium in Estland nachzufragen. Wenn man das tut, erhält man – schon am nächsten Tag – folgende Antwort: „Firstly I will have to point out that the article about Estonian project of designing a ‚Robot/Judge‘ is misleading. We are aware that wired.com issued an article about it, but the truth is that there hasn’t been that kind of project or even an ambition in Estonian public sector. Estonian Ministry of Justice does not develop AI robot judge for small claims procedure nor general court procedures to replace the human judge. We are still searching for ICT means to make court’s workload, including administrative burden more bearable.“ Dies darf ich – mit freundlicher Erlaubnis von Kaidi Lippus (Director of the Courts Division, Ministry of Justice) – zitieren.

Der wahre Sachverhalt stellt sich also wie folgt dar: Estland arbeitet daran zu prüfen, ob Informations- und Kommunikationstechnologien zur Unterstützung der richterlichen Tätigkeit nutzbar gemacht werden können. Die Entscheidung im Streitfall trifft dann aber weiterhin ein Mensch.

Dies sei hier berichtet, damit in Zukunft im Umfeld von Legal-Tech-Debatten in Deutschland wieder auf empirische Recherche statt auf Nacherzählen gesetzt wird. Oder in der Sprache des Prozessrechts ausgedrückt: An die Stelle des Beweises vom Hörensagen sollten andere verlässliche Beweismittel treten. Eine sich demgemäß anschließende Frage ist die, ob es den vielzitierten „AI Judge“ in China gibt. Diesbezüglich bestehen gleichfalls begründete Zweifel. Aber das wäre eine andere Geschichte. •

Prof. em. Dr. Maximilian Herberger ist Ehrenvorsitzender des Deutschen EDV-Gerichtstags e.V..