Urteilsanalyse
Keine mittelbaren Folgen ohne einen „Arbeitsunfall“
Urteilsanalyse
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Kommt es nach einem Unfallereignis bei einer Behandlung durch den Durchgangsarzt zu einer gesundheitlichen Schädigung, kann diese als mittelbare Folge gem. § 11 SGB VII nach Ansicht des LSG Rheinland-Pfalz nur dann anerkannt werden, wenn diese Behandlung wegen eines anerkannten Versicherungsfalles erfolgte.

25. Jul 2022

Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 15/2022 vom 21.07.2022

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Sachverhalt

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung der Entschädigung eines Arbeitsunfalles. Der 1978 geborene Kläger war bei einem Automobilzulieferer versicherungspflichtig beschäftigt und Mitglied des Betriebsrates. Als solcher hat er sich am 19.04.2018 eine Sehnenverletzung am linken Arm zugezogen. Der Kläger hob im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit, auf wackligem Untergrund stehend, einen auf der Seite liegenden Stapel von vier ineinandergeschobenen Stühlen mit gestrecktem linkem Arm an. Als er den Stuhlstapel auf 30 cm Höhe angehoben hatte, verspürte er ein Reißen und einen starken Schmerz in der linken Ellenbeuge. Der Kläger beendete seine Tätigkeit nach der Verletzung und stellte sich bei einem Durchgangsarzt vor, der einen Bizepssehnenriss diagnostizierte und im Übrigen die beklagte BG um Überprüfung bat, ob ein „BG-lich versichertes Ereignis“ vorliege. Ein MRT bestätigte den Abriss der distalen (körperfernen) Bizepssehne. Der Sehnenabriss wurde am 24.04.2018 operativ refixiert. Am 08.05.2018 unterzog der Kläger sich einer zweiten Operation.

Nach Einholung verschiedener medizinischer Unterlagen lehnte die beklagte BG durch angefochtenen Bescheid die Anerkennung eines Arbeitsunfalles ab. Der Unfallhergang beschreibe eine wesentliche Muskelanspannung. Es sei nicht erkennbar, dass plötzlich unerwartet eine Überlastung des Muskelsystems stattgefunden habe.

Den Widerspruch lehnte die Beklagte unter Hinweis auf das BSG (BeckRS 2012, 66303) ab. Ein äußeres Ereignis sei nicht erkennbar.

Dagegen erhob der Kläger Klage. Er beschrieb das Unfallereignis erneut und fordert eine Verletztenrente nach einer MdE von 20. Es liege ein „Verhebetrauma“ iSd Entscheidung des LSG Baden-Württemberg vom 19.07.2018 (BeckRS 2018, 18481) vor. Das SG hat verschiedene Arztberichte angefordert und ein Gutachten eingeholt, welches aus dem Operationsbericht entnimmt, dass die Sehne degenerativ oder regressiv verändert war. Der Kläger hat Berufung gegen den die Klage abweisenden Gerichtsbescheid eingelegt. Der Senat hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass die Schädigung des Nervus radialis links einen versicherten Gesundheitsschaden iSd § 11 SGB VII darstellen könnte. Die Beklagte lehnt die Anerkennung eines solchen mittelbaren Schadens ab, da ein Arbeitsunfall nicht in Rede steht.

Entscheidung

Das LSG weist die Berufung insgesamt zurück, lässt aber die Revision zu. Nach den ärztlichen Unterlagen über die Behandlung und die Operationen und vor allem den verschiedenen, vom SG und LSG eingeholten Gutachten, hat der Kläger keinen „Arbeitsunfall“ iSd §§ 7, 8 SGB VII erlitten. Der Riss der körperfernen Bizepssehne ist kein Gesundheits(erst)schaden iSd Unfallbegriffs der gesetzlichen Unfallversicherung, so dass die Anerkennung eines Arbeitsunfalls nicht in Betracht kommt. Dazu wertet das LSG die verschiedenen Gutachten sorgfältig aus und setzt sich auch mit LSG Baden-Württemberg vom 19.07.2018 (aaO) auseinander. Nach den medizinischen Unterlagen ist von einer „hochgradigen Schadensanlage“ auszugehen und eine Degeneration der Bizepssehne, die so weit fortgeschritten war, dass es nur noch eines rechtlich unerheblichen äußeren Anlasses zu ihrer Ruptur bedurfte.

Fehlt es an einem Versicherungsfall iSd §§ 7, 8 SGB VII, scheidet auch die Anerkennung der Schädigung des Nervus radialis links als versicherter Gesundheitsschaden nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 (oder Nr. 3) SGB VII aus. Dies, obwohl der Kläger die Verletzung mit Wahrscheinlichkeit bei der Operation am 24.04.2018 erlitten hat und er den operativen Eingriff als eine von der Beklagten als zuständiger Unfallversicherungsträger gewollte Maßnahme verstehen durfte. Das BSG hat in zwei Entscheidungen vom 05.07.2011 (BeckRS 2011, 76559) und 15.05.2012 (BeckRS 2012, 72458) ausgeführt, für die Anerkennung mittelbarer Unfallfolgen sei es ausreichend, dass der Versicherte sich auf Veranlassung des Unfallversicherungsträgers der Untersuchung oder Behandlung unterzogen hat, auch wenn – objektiv nachträglich betrachtet – die Behandlung nicht auf einer Unfallfolge basiert. Der Senat folgt dieser Rechtsauffassung ausdrücklich nicht, sondern beruft sich auf die in der Literatur dazu geäußerte Kritik (ua von Hauck/Noftz/Keller SGB VII, Stand: April 2019,  SGB VII § 11 Rn. 3 und KassKomm/Ricke, SGB VII § 11 Rn. 3 sowie BeckOK SozR/ Wietfeld, Stand: 01.06.2022, SGB VII § 11 Rn. 6). Wortlaut und Wortsinn des § 11 machen deutlich, dass Folgen eines Versicherungsfalles nur dann relevant sein können, wenn zuvor tatsächlich ein Versicherungsfall eingetreten ist.

Praxishinweis

1. Das LSG hat die Revision in grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Das BSG muss nun klären, ob nach dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 SGB VII Maßnahmen der Heilbehandlung oder der Begutachtung auch dann als „mittelbare Folge“ anzuerkennen sind, wenn tatsächlich ein Versicherungsfall gar nicht vorlag, der einer Behandlung bedurfte. Da es nach dem Gesetzeswortlaut um „mittelbare Folgen eines Versicherungsfalles“ geht, spricht einiges für die Sichtweise des LSG.

2. Zu den mittelbaren Folgen eines Arbeitsunfalles vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt FD SozVR 2022, 44927). Hier ging es um die Behandlung der Folgen eines anerkannten Schulunfalls.


LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26.04.2022 - L 3 U 163/20, BeckRS 2022, 17055