Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 05/2021 vom 12.03.2021
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Sachverhalt
Der Kläger beansprucht Erstattung der Kosten für eine zwischen 2014 und 2019 durchgeführte biologisch/alternative Krebstherapie seiner verstorbenen Ehefrau. Die 1961 geborene und im Jahr 2019 verstorbene, bei der Beklagten versicherte Ehefrau erkrankte im Jahr 2010 erstmals an einem Mammakarzinom rechts. Es erfolgte eine brusterhaltende Operation. Im Jahre 2014 traten Lymphknotenmetastasen auf. Im Laufe der nächsten Monate wurden Lebermetastasen, Lungenmetastasen sowie Knochenmetastasen der gesamten Wirbelsäule nachgewiesen. Die Versicherte beantragte die Übernahme der Kosten für Behandlungen bei einem Arzt für Allgemeinmedizin, der eine „ganzheitliche komplementäre Krebstherapie“ durchführte.
Gegen die Ablehnung der Kasse erhob sie Klage, auf die das SG die beklagte Kasse verurteilte, die im Zeitraum von April 2014 bis August 2017 aufgewandten Kosten für die Hyperthermie-Behandlung zu erstatten. Diese habe bei der Klägerin eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprochen. Das SG hatte ein Gutachten eingeholt und den behandelnden Arzt in einem Erörterungstermin persönlich angehört.
Dagegen richtet sich die Berufung der Kasse. Der Maßstab, dass eine auf Indizien gestützte, nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf ausreiche, gelte nur insoweit, als eine Aussicht auf Heilung der Grunderkrankung selbst oder positive Einwirkung bestehe. Diesen Maßstab habe das SG verkannt, soweit es darauf abstellte, dass die angewandte alternative Therapie die Berufsfähigkeit der Klägerin als Sängerin erhalten sollte. Damit erhebe das SG die Lebensqualität der Versicherten zum entscheidenden Maßstab.
Das LSG hat weitere ärztliche Berichte angefordert und ein Gutachten eingeholt vom Direktor einer Klinik für Hämatologie/Internistische Onkologie, welches der durchgeführten Behandlung keine „auch nur entfernt liegende Aussicht auf Heilung“ attestiert.
Entscheidung
Das LSG hebt auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG auf und weist die Klage insgesamt ab. Ein Anspruch auf Kostenerstattung könne sich allenfalls aus § 2 Abs. 1a SGB V ergeben. Zwar ist von einer lebensbedrohlichen Erkrankung der Versicherten auszugehen. Jedoch versprach die tatsächlich angewandte biologische Krebstherapie keine Aussicht auf Heilung. Dem Gemeinsamen Bundesausschuss kann auch nicht vorgehalten werden, es liege ein „Systemversagen“ vor, da er sich mit dieser Art Heilbehandlung verschiedentlich befasst hat. Tatsächlich war schulmedizinisch die Versicherte nur noch palliativ behandelbar. Dazu standen ausreichende dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechende Therapieoptionen zur Verfügung. Der Einwand der Versicherten, die leitliniengerechten Therapien seien wegen Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten nicht in Betracht gekommen, wurde zurückgewiesen.
Praxishinweis
1. Bei der Versicherten traten bereits 2014 umfangreiche Metastasen auf, an der Leber, der Lunge und der Wirbelsäule. Der behandelnde Arzt wird wohl geltend machen, die von ihm angewandte ganzheitliche Methode habe der Patientin – sie war von Beruf Sängerin – durchaus weitergeholfen. Sie machte im Übrigen geltend, dass eine antihormonelle Therapie ihr Stimmpotential hätte beeinträchtigen können. Die Chemotherapie sei – so ihr Vortrag im Klageverfahren – mit starken Nebenwirkungen verbunden. Das SG hat sich – durchaus nicht ungewöhnlich – davon überzeugen lassen; das LSG legt einen strengeren Maßstab zugrunde. Beide Instanzen haben sich umfassend gutachterlich beraten lassen, haben also nicht auf die umfangreiche Rechtsprechung zur Hyperthermie pauschal Bezug genommen.
2. Wichtig für die Praxis ist die vom LSG herausgearbeitete Differenzierung zwischen kurativer Behandlung und palliativer Begleitung. Der Fall zeigt, dass die hier vorgenommene ganzheitliche Behandlung jedenfalls zu Beginn keinesfalls „nur“ palliativ ausgerichtet war, sondern sehr wohl auf eine Verbesserung der Lebenssituation abzielte.
3. Unabhängig davon, wie weit im Einzelfall Avastin beim rezidivierenden Glioblastom eine Heilungsaussicht verspricht, scheitert der Anspruch auf Erstattung der Kosten auch soweit er auf § 2 Abs. 1a SGB V gestützt ist an der fehlenden Zulassung (LSG München, BeckRS 2020, 38233; so schon zuvor BSG, BeckRS 2018 29625).
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.12.2020 - L 16 KR 104/18, BeckRS 2020, 39475