Anmerkung von
Rechtsanwältin Elke Bäuerle, Fachanwältin für Insolvenzrecht, Schultze & Braun Rechtsanwaltsgesellschaft für Insolvenzverwaltung mbH
Aus beck-fachdienst Insolvenzrecht 17/2020 vom 28.08.2020
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Sachverhalt
Die Schuldnerin lebt getrennt von ihrem Ehemann und bewohnt zusammen mit ihren beiden am 9.8.2000 und 20.1.2003 geborenen Kindern, welche beide noch die Schule besuchen, eine 168 m² große Wohnung zu einer monatlichen Warmmiete iHv 1.150 EUR. Die Schuldnerin hat ein monatliches Nettoeinkommen iHv 1.331 EUR. Der Kindsvater zahlt für die beiden Kinder monatlich jeweils 364 EUR Unterhalt. Weiter erfolgen monatliche Kindergeldzahlungen in gesetzlicher Höhe. Der Insolvenzverwalter hat beim Insolvenzgericht beantragt, dass die beiden Kinder bei der Berechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens der Schuldnerin gem. § 36 Abs. 1 Satz 3, Abs. 4 Satz 1 InsO, § 850c Abs. 4 ZPO unberücksichtigt bleiben. Ebenso soll das ausbezahlte Kindergeld als Einkommen der Schuldnerin zu werten und der Schuldnerin und den beiden Kindern aus sozialhilferechtlichen Gründen lediglich eine 80 m² große Wohnung zuzubilligen sein.
Das Insolvenzgericht ordnete daraufhin an, dass die beiden Kinder nicht als unterhaltsberechtigte Personen zu zählen seien. Das Beschwerdegericht änderte auf die Beschwerde der Schuldnerin den Beschluss des Insolvenzgerichts ab und ordnete an, dass bei der Berechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens der Schuldnerin der unterhaltsberechtigte Sohn zu 70 % und die unterhaltsberechtigte Tochter zu 50 % unberücksichtigt bleiben. Der weitergehende Antrag des Insolvenzverwalters wurde zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Insolvenzverwalter mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde, mit der er die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Entscheidung erreichen möchte.
Entscheidung
Die Rechtsbeschwerde des Insolvenzverwalters hat Erfolg.
Da eine eigene abschließende Entscheidung über die begehrte Nichtberücksichtigung der Kinder bei der Berechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens der Schuldnerin dem Senat nicht möglich war, wurde die Sache zur Entscheidung zurückverwiesen, § 577 Abs. 4 Satz 1 Abs. 5 ZPO.
Der BGH führte in seiner Entscheidung aus, dass Unterhaltszahlungen, die der Unterhaltsberechtigte vom anderen Elternteil oder von Dritten bezieht, als eigene Einkünfte iSd § 850c Abs. 4 ZPO zu berücksichtigen sind (BGH Beschl. v. 19.12.2019 – IX ZB 83/18, BeckRS 2019, 35401 = FD-InsR 2020, 426214 m. Anm. Bäuerle).
Das Kindergeld stellt dagegen nach gefestigter Rechtsprechung des BGH kein Einkommen der unterhaltsberechtigten Kinder iSd § 850c Abs. 4 ZPO dar. Es dient dem Ausgleich der aus dem Familienunterhalt folgenden Belastungen. Der Gesetzgeber hat dem Umstand, dass für Kinder des Schuldners als zweite und weitere Unterhaltsberechtigte regelmäßig Kindergeld bezahlt wird, bereits bei der Bemessung des pauschalierten pfändungsfreien Betrags in § 850c Abs. 1 ZPO Rechnung getragen (BGH Beschl. v. 5.4.2005 – VII ZB 20/05, WM 2005 S. 1369, 1370; BGH Beschl. v. 19.12.2019 – IX ZB 83/18, BeckRS 2019, 35401 = FD InsR 2020, 426214). Das Kindergeld zählt auch dann nicht als unterhaltsrechtliches Einkommen des Kindes, wenn das Kind die erste unterhaltsberechtigte Person ist. Für die Höhe der in Betracht kommenden Freibeträge unterscheidet das Gesetz lediglich zwischen der ersten unterhaltsberechtigten Person und den weiteren - bis zu fünf - unterhaltsberechtigten Personen. Eine darüber hinausgehende Staffelung der Freibeträge ist nicht vorgesehen. Bei Abwesenheit eines Ehegatten als unterhaltsberechtigte Person des Schuldners ist das unterhaltsberechtigte Kind des Schuldners erste unterhaltsberechtigte Person iSd § 850c Abs. 1 Satz 2 ZPO (BGH 19.5.2004 – IXa ZB 322/03, ZVI 2004, 387, 388f). Würde das Kindergeld als eigenes Einkommen des Kindes als erste unterhaltsberechtigte Person iSd § 850c Abs. 1 Satz 2 ZPO angesehen werden, käme man zum im Beschluss vom 19.5.2004 (a.a.O.) abgelehnten Ergebnis und berücksichtige die Kinder, für die Kindergeld bezahlt wird, nur mit dem verminderten Freibetrag der zweiten bis fünften Stufe.
Als eigenes Einkommen der Kinder waren daher nur die Unterhaltszahlungen des Kindsvaters zu berücksichtigen. Ab welcher Höhe eigenes Einkommen des Unterhaltsberechtigten seine Berücksichtigung bei der Bestimmung der Pfändungsbeträge aus Arbeitseinkommen oder diesen gleichgestellte Bezüge des Unterhaltsverpflichteten ausschließt, hat der Gesetzgeber bewusst nicht im Einzelnen geregelt (BT-Drucks. 8/693, S 48f). Dies ergibt sich bereits aus der Verwendung des Begriffs des billigen Ermessens. Dabei verbietet sich nach der ständigen Rechtsprechung des BGH eine schematisierende Betrachtungsweise. Das Gericht hat vielmehr seine Entscheidung unter Abwägung der wirtschaftlichen Lage des Gläubigers und des Schuldners sowie der von ihm unterhaltenen Angehörigen zu treffen. Dabei können Pfändungsfreibeträge und Unterhaltstabellen Anhaltspunkte für die Ausübung des Ermessens geben. Eine bloß einseitige Orientierung an bestimmten Berechnungsmodellen scheidet jedoch aus, weil dies dem Sinn des § 850c Abs. 4 ZPO widerspricht (BGH Beschl. v. 21.12.2004 – IXa ZB 142/04; BGH Beschl. v. 5.4.2005 – VII ZB 28/05; BGH Beschl. v. 5.11.2009 – IX ZB 101/09).
Der BGH beanstandete auch die vom Beschwerdegericht vorgenommene Berechnung des eigenen Bedarfs der unterhaltsberechtigten Kinder. Der BGH wies darauf hin, dass das Gericht bei seiner Ermessensentscheidung zu bedenken habe, dass der Grundfreibetrag des § 850c Abs. 1 ZPO regelmäßig auch dazu dient, zu einem erheblichen Teil die Wohnungsmiete und andere Grundkosten des Haushalts abzudecken, die sich nicht proportional zur Personenzahl des Haushalts erhöhen. In derartigen Fällen können bei der Berechnung des Bedarfs der Unterhaltsberechtigten die sozialrechtlichen Regelungen zur Existenzsicherung herangezogen werden. Es ist allerdings dabei zu berücksichtigen, dass die Regelungen über die Pfändungsfreigrenzen dem Schuldner und seinen Unterhaltsberechtigten nicht nur das Existenzminimum sichern sollen, sondern ein deutlich darüber liegender Anteil am Arbeitskommen erhalten bleiben muss. Bei einer Orientierung an den sozialrechtlichen Regelungen wird daher im Rahmen der Ermessensausübung ein Zuschlag in tatrichterlicher Würdigung aller Umstände des Einzelfalls ein Zuschlag in Größenordnung von 30 bis 50 % nicht zu beanstanden sein (vgl. BGH Beschl. v. 5.4.2005 – VII ZB 28/05).
Maßgebliche Berechnungsgrundlage ist der Regelbedarf nach § 20 SGB II, § 27a, § 28 SGB XII (vgl. BGH Beschl. v. 5.4.2005 – VII ZB 28/05; BGH Beschl. v. 7.5.2009 – IX ZB 211/08; BGH Beschl. vom 19.12.2019 – IX ZB 83/18). Durch den Zuschlag auf den Regelbedarf wird der Abstand zum sozialhilferechtlichen Existenzminimum hinreichend gewahrt. Es verbiete sich daher neben dem Regelbedarf nach § 20 SGB II zusätzlich auch die individuellen Bedarfe für Bildung und Teilhabe nach § 28 Abs. 3 und 7 SGB II und für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II als Berechnungsgrundlage einzustellen. Durch den auf den Regelbedarf zu gewährenden Zuschlag sind diese zusätzlichen Bedarfe regelmäßig mit abgedeckt.
Praxishinweis
Mit der vorliegenden Entscheidung bestätigt der BGH seine bisherige Rechtsprechung und ergänzt sie klarstellend hinsichtlich der Nichtberücksichtigung des Kindergeldes als Einkommen des Kindes als erste unterhaltsberechtigte Person iSd § 850c Abs. 1 Satz 2 ZPO. Der entschiedene Fall betrifft eine häufig vorkommende Konstellation und trägt daher zur Klarstellung bei der Berechnung des pfändbaren Teils des Arbeitseinkommens des Schuldners bei.
BGH, Beschluss vom 09.07.2020 - IX ZB 38/19 (LG Münster), BeckRS 2020, 17794