Urteilsanalyse
Keine Arbeitslohnrückzahlung bei Insolvenzanfechtung
Urteilsanalyse
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Eine von dem Arbeitgeber geleistete Zahlung kann von dem Arbeitgeber, auch wenn es sich nunmehr um den eingerückten Insolvenzverwalter handelt, in Höhe des Mindestlohns nicht zurückgefordert werden, so das LAG Hessen.

1. Apr 2022

Rechtsanwalt Joachim Zobel, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Schultze & Braun GmbH Rechtsanwaltsgesellschaft

Aus beck-fachdienst Insolvenzrecht 07/2022 vom 01.04.2022

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Sachverhalt

Die Parteien streiten um die Rückzahlung von Lohnzahlungen infolge einer Insolvenzanfechtung. Der Kläger ist der Insolvenzverwalter (IV) in dem mit Beschl. des AG Gießen v. 1.12.2016 eröffneten Insolvenzverfahren. Die Beklagte war Arbeitnehmerin (AN) des Insolvenzschuldners. Am 25.8.2016 sowie am 26.9.2016 erhielt die Beklagte jeweils eine Zahlung mit dem Verwendungszweck „Lohn“, die über das Konto der Mutter des Insolvenzschuldners erfolgte. Dabei erfolgte am 18.7.2016 eine Bareinzahlung auf das Konto der Mutter des Schuldners aus dem Vermögen des letzteren. Nachdem der Kläger ggü. der Beklagten die Anfechtung der beiden Vermögensverschiebungen erklärte und die Beklagte die Forderung zurückwies, erhob er die Klage beim AG Gießen, welches die Klage durch den rechtskräftigen Beschl. an das ArbG Gießen verwies.

Das ArbG wies die Klage insgesamt ab. Zwar seien die Voraussetzungen des § 131 Abs. 1 InsO erfüllt, so dass die beiden Zahlungen angefochten werden könnten. Weiterhin liege eine Gläubigerbenachteiligung iSv. § 129 Abs. 1 InsO vor, denn das Vermögen des Schuldners sei durch die beiden Zahlungen an die Bekl. gemindert worden. Auch sei ein Fall der inkongruenten Deckung gegeben, weil die Beklagte die Befriedigung nicht in der Art hätte beanspruchen dürfen, in der sie geleistet wurde. Die zeitlichen Voraussetzungen sowie die Zahlungsunfähigkeit des Insolvenzschuldners seien auch gegeben.

Der Anfechtung stünden jedoch die Vorschriften des MiLoG entgegen, dessen vorrangiger Zweck darin bestehe, jedem AN das Existenzminimum zu gewährleisten. Zugleich sollten die Systeme der sozialen Sicherheit entlastet werden. Ein Mindestlohnanspruch sei nur dann erfüllt, wenn der Gläubiger den Geldbetrag zur freien Verfügung behalten darf. Eine dem MiLoG genügende Vergütungszahlung müsse dem AN endgültig verbleiben und dürfe nicht rückzahlbar sein.

Dem stehe auch nicht entgegen, dass der Beklagte Insolvenzgeldansprüche zustünden. Zwar sei nach der Rspr. des BAG eine Anfechtungssperre in Höhe des auf den Vergütungszeitraum entfallenen Existenzminimums in Fällen der inkongruenten Deckung verfassungsrechtlich nicht geboten, weil der AN sein Existenzminimum durch staatliche Sozialleistungen bzw. Insolvenzgeld decken könnte. Allerdings versage oft der Schutz des Insolvenzgeldanspruchs im Falle der Anfechtung der Lohnzahlungen wg. der Säumnis der zweimonatigen Ausschlussfrist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III, die an das Insolvenzereignis anknüpfe. Auch Arbeitslosengeld könne der AN für Zeiträume, in denen er gearbeitet hat, nicht rückwirkend beantragen. Mit der Rückforderung des Entgelts würden die Rechte des AN auf den Mindestlohn untergaben. Bei dem Mindestlohnanspruch handele es sich jedoch um ein unabdingbares Schutzrecht, so dass der Schutz der Gläubigergemeinschaft hinter diesem zurücktreten müsse.

Gegen das Urteil des ArbG legte der Kläger Berufung ein.

Entscheidung

Die Berufung ist überwiegend unbegründet. Die Anfechtung greife nur hinsichtlich des den Mindestlohnanspruch übersteigenden Teil des erlangten Nettoentgelts durch. Das LAG mache sich die Ausführungen des ArbG zu Eigen und ergänze sie um folgende Argumente: Während der Arbeitgeber, der die Mindestlohnansprüche zuvor ausgezahlt habe, diese nicht zurückfordern könne, könnten Dritte auch auf gesetzliche Mindestlohnansprüche eines Schuldners grds. zugreifen. Vorliegend handele es sich jedoch um ein bilaterales und nicht um ein multilaterales Verhältnis, wie der Kläger annehme. Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens trete der IV in die Arbeitgeberstellung ein und übe für die Dauer des Insolvenzverfahrens die Funktion des Arbeitgebers aus mit der Folge, dass er die Mindestlohnansprüche nicht zurückfordern könne.

Zudem spreche gegen die Anfechtung auch die vom ArbG angenommene soziale Schutzbedürftigkeit der AN.

Es wurde Revision eingelegt (BAG 6 AZR 497/21).

Praxishinweis

Die Ansprüche von AN aus dem MiLoG vermitteln im Verhältnis zum Arbeitgeber und damit auch gegenüber dem in diese Stellung einrückenden IV eine „Rückforderungssperre“ bzw. „Anfechtungssperre“. In Höhe des Mindestlohns (ab 01.01.2022 EUR 9,82/h, ab 01.07.2022 EUR 10,45/h und ab 01.10.20200 EUR 12/h) ist die Anfechtung - selbst bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen - nicht möglich. Nur so verbleibt den AN dauerhaft ein existenzsicherndes Monatseinkommen.

Dritten ist unter Beachtung der Pfändungsfreigrenzen (seit 01.07.2021 bis 30.06.2023: EUR 1.252,64) allerdings auch der Zugriff auf gesetzliche Mindestlohnansprüche möglich.

Die Ermittlung des ggf. anfechtbaren „überschließenden“ Entgeltanteils obliegt dem IV. Hierfür ist eine zusätzliche „fiktive Abrechnung“ des Mindestlohnanspruchs neben der eigentlichen Lohnabrechnung erforderlich; die gesetzlichen Abzüge (LSt und SV) erfolgen aus dem vollen Lohnanspruch.


LAG Hessen, Urteil vom 19.10.2021 - 12 Sa 587/21 (ArbG Gießen), BeckRS 2021, 42404