Urteilsanalyse
Keine (erneute) Pflicht zu Belehrung über Schweigerecht vor Verständigung
Urteilsanalyse
urteil_lupe
© Stefan Yang / stock.adobe.com
urteil_lupe

Das Schweigerecht ist von einer Verständigung per se nicht berührt. Es bedarf, so der Bundesgerichtshof, keiner Belehrung darüber gemäß § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO, bevor eine Verständigung zustande kommt. 

26. Aug 2022

Anmerkung von Wiss. Mit. Johanna Mayrhofer, Ignor & Partner GbR, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 17/2022 vom 25.08.2022

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Strafrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Strafrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Strafrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de.

Sachverhalt

Im Verfahren vor dem LG gegen den Angeklagten A teilte der Vorsitzende, nachdem die Anklageschrift verlesen worden war, mit, dass Gespräche mit dem Ziel einer verfahrensbeendigenden Verständigung (§§ 202a, 212, 257c StPO) stattgefunden hätten. Er wies darauf hin, dass auf Basis dieser Gespräche bereits mehrere Zeugen abgeladen worden seien. Der Verteidiger des A stellte verschiedene Anträge, die der Vorsitzende zurückstellte, um weitere verständigungsorientierte Gespräche einzuleiten. Verteidigung und Sitzungsvertretung erklärten sich zu solchen Gesprächen bereit. Die Sitzung wurde unterbrochen, die Gespräche wurden fortgeführt. Der Inhalt der Gespräche wurde in der Hauptverhandlung mitgeteilt. Nachdem der Verteidiger am nächsten Sitzungstag erklärt hatte, die Verständigung werde von A mitgetragen, wurde der Vorschlag dem A unterbreitet und er wurde verständigungsbezogen belehrt. Er stimmte dem Ergebnis der Verständigungsgespräche und der Belehrung zu. Der Vorsitzende stellte fest, dass die vorgeschlagene Verständigung zustande gekommen sei. Nach einer weiteren Unterbrechung der Hauptverhandlung belehrte er A über seine Rechte gem. § 243 Abs. 5 S. 1 StPO. Im weiteren Verlauf verlas der Verteidiger eine verschriftete Einlassung des A.

Das LG verurteilte A wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs Fällen und wegen vorsätzlichen Handeltreibens mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten und traf eine Einziehungsentscheidung.

Mit der Revision rügte A eine Verletzung von § 243 Abs. 5 S. 1 StPO, weil er erst nachdem die Verständigung zustande gekommen war aufgrund weiterer Erörterungen und nicht unmittelbar nachdem die Transparenzerfordernisse aus § 243 Abs. 4 StPO erfüllt waren zu seinem Schweigerecht belehrt wurde.

Entscheidung

Der Senat verwarf die auf die Verfahrens- und Sachrüge gestützte Revision des A als unbegründet.

§ 243 StPO sei keine Pflicht zu entnehmen, zum Schweigerecht zu belehren, bevor (erneut) Verständigungsgespräche aufgenommen werden. Daraus ergebe sich nur, dass der Angeklagte nach der Mitteilung gemäß Abs. 4 Satz 1 und vor seiner Vernehmung zur Sache darauf hinzuweisen sei, dass es ihm freistehe, sich zur Sache zu äußern oder nicht. Für den Fall, dass vor der Vernehmung zur Sache Gespräche über eine mögliche Verständigung geführt werden sollen, sehe die Vorschrift eine Belehrung des Angeklagten über sein Schweigerecht demgegenüber nicht vor. Die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten sei nicht berührt, wenn im Anschluss an die Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 S. 1 StPO (erneut) Erörterungen stattfänden, die in eine Verständigung münden. Vielmehr käme es zur Wahrung der Selbstbelastungsfreiheit nur darauf an, vor einer Vernehmung über das Schweigerecht zu belehren; nur dann sei der Schutzbereich des Schweigerechts berührt. Das sei hier geschehen. Es entspräche der Konzeption der Gesetzgebung zur Verständigung, eine solche in jedem Stadium der Hauptverhandlung in die Wege zu leiten – auch schon direkt im Anschluss an die Mitteilung gem. § 243 Abs. 4 S. 1 StPO. Die Beweisaufnahme abzukürzen, entspräche insbesondere dem Zweck der Verständigung.

Praxishinweis

Weit überwiegend kommt es im Rahmen von Verständigungen zu Vereinbarungen über ein Geständnis (Altenhain/Jahn/Kinzig, Die Praxis der Verständigung im Strafverfahren, 2020, S. 164, 353 ff.), wie es auch in § 257c Abs. 2 S. 2 StPO vorgesehen ist. Dass die vorherige Belehrung über das Schweigerecht – als Möglichkeit, die Selbstbelastungsfreiheit ins Bewusstsein zu rufen – völlig ins Leere liefe, wie hier suggeriert wird, scheint zu kurz gegriffen. Es mag stimmen, dass in den Verständigungsgesprächen selbst keine Einlassung zur Sache erforderlich ist und etwaige Absprachen in diese Richtung rein hypothetisch bleiben können. Dass diese einen Angeklagten und sein Verständnis seiner Selbstbelastungsfreiheit tatsächlich unberührt lassen, kann, wenn man das offensichtliche Machtgefälle in Verständigungssituationen berücksichtigt, kaum einleuchtend sein.

Soweit ersichtlich äußert sich der BGH hier zum ersten Mal dazu, wie Verständigung und Schweigerecht in diesem Kontext interagieren. Neben dem oben Besprochenen stellt sich auch die Frage, was dagegenspräche, einen Angeklagten nach der Mitteilung gem. § 243 Abs. 4 S. 1 StPO und bevor erneut Gespräche aufgenommen werden zu seinem Schweigerecht zu belehren. Dass dadurch ein nennenswerter Zeitverzug entstünde oder andere prozessökonomische Gesichtspunkte zu berücksichtigen wären, die dem hier vom BGH hoch gehaltenen Zweck der Verständigung (nämlich die Beweisaufnahme zu verkürzen) entgegenstünden, ist nicht ersichtlich.

BGH, Beschluss vom 15.06.2022 - 6 StR 206/22 (LG Schwerin), BeckRS 2022, 18702