Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 17/2020 vom 11.09.2020
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Sachverhalt
Die Beteiligten streiten darüber, ob der beklagte Unfallversicherungsträger der klagenden Krankenkasse Behandlungskosten zu erstatten hat, die sie für einen Unfall aufwenden musste. Die bei der Klägerin gesetzlich krankenversicherte Beigeladene arbeitete im Rahmen des Teleworkings von zuhause aus. Am 27.11.2013 brachte sie ihre 2008 geborene Tochter morgens zum Kindergarten, um danach zuhause ihrer Beschäftigung im Teleworking nachzugehen. Auf dem Rückweg vom Kindergarten stürzte sie und brach sich das rechte Ellenbogengelenk. Die Beklagte lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls der Verletzten gegenüber ab. Die Verletzte hat hiergegen keinen Widerspruch eingelegt. Für die Krankenbehandlung der Verletzten wendete die Klägerin mehr als 19.000 EUR auf. Diese Aufwendungen macht sie nun im Wege der Erstattung der beklagten Unfallversicherung gegenüber geltend.
SG (FD-SozVR 2016, 375574) und LSG weisen die Klage ab. Wer vor Beginn der Arbeitstätigkeit im Homeoffice sein Kind zum Kindergarten bringt, steht auf diesem Weg nicht unter Unfallversicherungsschutz gem. § 8 Abs. 2 Nr. 2a SGB VII. Das LSG hat ausführlich auch geprüft, ob hier ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vorliegt und dies verneint.
Kainz bejaht dagegen in seiner Anmerkung in NZA-RR 2019, 112, eine analoge Anwendung des § 8 Abs. 2 SGB VII auf Fälle der vorliegenden Art, dies auch deshalb, weil die Arbeitgeber in finanzieller Hinsicht durch die Telearbeit entlastet werden, kommt es doch dadurch grundsätzlich zu weniger Wegeunfällen gem. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII.
Entscheidung
Das BSG weist die Revision der klagenden Kasse zurück. Der Unfall war unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ein versicherter Arbeitsunfall. Der Versicherungsschutz nach § 8 Abs. 2 Nr. 2a SGB VII scheitert daran, dass ein versicherter Weg zur Arbeit gerade nicht vorliegt. Für eine Rechtsfortbildung im Wege der Analogie fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke. Es ist davon auszugehen, dass die Regelung vom Gesetzgeber im Jahre 1971 bewusst und abschließend getroffen wurde, was auch durch die unveränderte Übernahme der Norm bei der Eingliederung der RVO in das SGB VII bestätigt wird. Schon damals gab es Homeoffice.
Praxishinweis
1. Ergebnis und Begründung der Entscheidung liegen voll in der Tradition der Rechtsprechung des zweiten Senats zum (Wege-)Unfall beim Verbringen von Kindern in den Kindergarten oder auch in die Schule. Der Vorschlag einer Analogie setzt zum einen eine Regelungslücke voraus. Vor allem aber müsste der Rechtsanwender prüfen, ob die Ablehnung der Leistung in der Person des Versicherten eine vergleichsweise schwere Belastung darstellt. Bedenkt man, dass auf dem Weg zum Therapeuten die Pflegeperson unter Unfallversicherungsschutz steht, die zu pflegende Person aber nicht, ist es in der Tat Sache des Sozialgesetzgebers darüber zu befinden, ob Unfälle, die Eltern beim Verbringen von Kindern in die Betreuungseinrichtung oder in die Schule erleiden, wirklich Entschädigungsansprüche auslösen sollen (hier geht es insbesondere um die Verletztenrente).
2. Wie schwierig die sozialpolitische Einordnung ist, zeigen Diskussionen im A+S-Ausschuss des Deutschen Bundestages zu dem Entwurf eines 7. SGB IV-Änderungsgesetzes. Die Opposition hatte vorgeschlagen, § 8 SGB VII um einen Abs. 1a zu ergänzen mit folgendem Wortlaut:
„Ist Arbeit zuhause gestattet oder angeordnet, so wird in der Zeit vom 18.03.2020 bis 30.09.2020 bei einem Unfall im Sinne des Abs. 1 Satz 2, der während der Arbeitszeit passiert, vermutet, dass es sich um einen Arbeitsunfall nach Abs. 1 Satz 1 handelt.“
Zur Begründung weist dieser Vorschlag darauf hin, dass es pandemiebedingt zu immer häufigeren, oftmals ohne Vorbereitung, durchgeführtem Arbeiten von zuhause kommt. Deshalb sei damit zu rechnen, dass auch gehäufte Unfälle, die der Sphäre der beruflichen Arbeit zugehörig sind, dort geschehen. Von daher ist es zum Schutz vor Nachteilen zwingend, das Arbeiten zuhause in Bezug auf Unfallgeschehen und Schäden i.S.d. § 8 Abs. 1 SGB VII dem Arbeiten in der Betriebsstätte gleichzustellen. Die bisherige BSG-Rechtsprechung gewährleistet das nicht. Die Ausschussmehrheit hat diesen Vorschlag jedoch abgelehnt.
3. Interessant ist, dass das BSG auch prüft, ob die Versicherte unter Wegeunfallversicherungsschutz stand unter dem Gesichtspunkt eines von einem sog. „dritten Ort“ aus angetretenen Weges. Grundsätzlich kann ein versicherter Weg zur Arbeitsstätte auch von einem anderen Ort als der Wohnung angetreten werden. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII legt als End- oder Ausgangspunkt des Weges nur den Ort der versicherten Tätigkeit fest. Die Norm lässt offen, wo der Weg zu dem Ort der Tätigkeit beginnt oder wo der Weg von dem Ort der Tätigkeit endet. Die in letzter Zeit strittig gewordene Frage, ob zur Abgrenzung des Versicherungsschutzes auf die Dauer des Aufenthalts am sogenannten Dritten Ort abgestellt werden kann und dieser Aufenthalt mindestens zwei Stunden gedauert haben muss, wird nun vom Senat ausdrücklich bejaht. Er hält an seiner bisherigen Rechtsprechung fest. Ein Ort wird erst dann zu einem sogenannten Dritten Ort, von dem aus ein versicherter Weg zur Arbeitsstätte angetreten werden kann, wenn der Versicherte sich dort zwei Stunden oder länger aufhält.
Zu fragen ist dennoch: Kann es sein, dass die Versicherte, die im Homeoffice tätig ist, z.B. wegen Personalmangels in der KiTa dort Aufgaben der Betreuung übernimmt und nach drei Stunden wieder nach Hause fährt (zu ihrem Homeoffice-Arbeitsplatz), nun unter Wegeunfallversicherungsschutz steht?
4. Ausführlich zum Unfallversicherungsschutz auch im Hinblick auf die stark zunehmende Tätigkeit im Homeoffice vgl. Schlegel, in: Schlegel/Meßling/Bockholdt, COVID-19-Corona-Gesetzgebung 2020, § 18. Dort finden sich auch sehr interessante Ausführungen zum Regress gegen den Arbeitgeber bei Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften betreffend die COVID-19-Infektion. Zum Thema: „Deliktische Haftung bei einer Ansteckung mit SARS-CoV-2“ vgl. Brand/Becker, NJW 2020, 2665.
BSG, Urteil vom 30.01.2020 - B 2 U 19/18 R, BeckRS 2020, 1741