Urteilsanalyse
Kein Verwertungsverbot bei offener Videoüberwachung trotz Missachtung datenschutzrechtlicher Vorgaben
Urteilsanalyse
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In einem Kündigungsschutzprozess besteht grds. kein Verwertungsverbot bzgl. solcher Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht.

19. Jul 2023

Anmerkung von
RAin Muriel Kaufmann, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 27/2023 vom 13.07.2023

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Sachverhalt

Die beklagte Arbeitgeberin hatte das Arbeitsverhältnis des zuletzt als Teamsprecher in der Gießerei beschäftigten Klägers gestützt auf den Vorwurf gekündigt, er habe u.a. eine Mehrarbeitsschicht am 2.6.2018 nicht geleistet in der Absicht, dennoch die Vergütung dafür zu beanspruchen. Nach einem anonymen Hinweis auf regelmäßigen Arbeitszeitbetrug von Mitarbeitern in der Gießerei hatte die Arbeitgeberin Aufzeichnungen einer durch ein Piktogramm ausgewiesenen und nicht zu übersehenden Videokamera an einem Tor zum Werksgelände ausgewertet. Die Auswertung hatte ergeben, dass der Kläger das Werksgelände noch vor Schichtbeginn wieder verlassen hatte. Der Kläger machte geltend, er habe an dem streitgegenständlichen Tag gearbeitet. Die Erkenntnisse aus der Videoüberwachung unterlägen einem Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbot.

Entscheidung

Die Vorinstanzen hatten der Klage stattgegeben. Auf die Revision der Beklagten verwies das BAG die Sache an das LAG Niedersachsen zurück. Nach den einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts sowie des nationalen Verfahrens- und Verfassungsrechts habe das LAG nicht nur den Vortrag der Beklagten zum Verlassen des Werksgeländes vor Beginn der Mehrarbeitsschicht zugrunde legen, sondern ggf. auch die betreffende Sequenz aus der Videoüberwachung in Augenschein nehmen müssen. Eine Verarbeitung der betreffenden personenbezogenen Daten des Klägers durch die Gerichte für Arbeitssachen wäre nach der DSGVO selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn die Überwachung nicht in jeder Hinsicht den Vorgaben des BDSG und der DSGVO entsprochen habe. Dies gelte jedenfalls, wenn Daten offen erhoben würden und ein vorsätzliches vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers in Rede stehe. Dann sei es grundsätzlich irrelevant, wie lange der Arbeitgeber mit der erstmaligen Einsichtnahme in das Bildmaterial zugewartet und es bis dahin vorgehalten habe. Ob ausnahmsweise aus Gründen der Generalprävention ein Verwertungsverbot bei vorsätzlichen Pflichtverstößen in Betracht komme, wenn eine offene Überwachungsmaßnahme eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung hervorrufe, konnte das BAG offenlassen.

Praxishinweis

Zu der Entscheidung liegt bislang nur die Pressemitteilung vor (FD-ArbR 2023, 458134).

Nach Auffassung des LAG Niedersachsen hätte eine Verwertung der Videoaufzeichnungen die vorprozessuale Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers perpetuiert und vertieft. Insbesondere widerspreche eklatant den Grundsätzen der Datenminimierung und Speicherbegrenzung nach Art. 5 DSGVO, dass die herangezogenen Videoaufzeichnungen zum Zeitpunkt der Auswertung bereits teilweise ein Jahr lang zurückgelegen hätten.

Dieser Argumentation schließt sich das BAG nicht an, sondern entwickelt seine Rechtsprechung zur prozessualen Verwertbarkeit weiter. Danach kann sich ein Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbot mangels ausdrücklicher Regelungen allein aus einer verfassungskonformen Auslegung des Prozessrechts ergeben. Auf dieser Basis hatte das BAG (ArbRAktuell 2017, 41) bereits anerkannt, dass die Verwertung eines „Zufallsfunds“ aus einer gerechtfertigten verdeckten Videoüberwachung zulässig sein kann. Später lehnte es im Falle einer zulässigen offenen Videoüberwachung ein Verwertungsverbot von Sequenzen, die vorsätzliche Handlungen eines Arbeitnehmers zulasten des Eigentums des Arbeitgebers zeigen, wegen Verstoßes gegen Löschpflichten ab, solange die Rechtsverfolgung durch den Arbeitgeber materiell-rechtlich möglich ist (FD-ArbR 2018, 410541). Nach der Pressemitteilung erscheint möglich, dass im Falle einer offenen Videoüberwachung und vorsätzlichem vertragswidrigem Verhalten auch über einen Verstoß gegen Löschpflichten hinausgehende Abweichungen von datenschutzrechtlichen Vorgaben nicht den Ausschlag zugunsten eines Verwertungsverbots geben.

BAG, Urteil vom 29.06.2023 - 2 AZR 296/22 (LAG Niedersachsen)