Urteilsanalyse
Kein Vermögensschaden bei nicht bei sich geführter übertragbarer Zeitkarte
Urteilsanalyse
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Ein Vermögensschaden seitens des Verkehrsunternehmens liegt nach einem Beschluss des BayObLG vom 27.05.2020 nicht schon dann vor, wenn ein Angeklagter bei den ihm vorgeworfenen Fahrten die von ihm erworbene, übertragbare Zeitkarte entgegen den Vertragsbedingungen nicht bei sich führt und auch keinen neuen zusätzlichen Fahrschein erwirbt.

18. Aug 2020

Anmerkung von 
Rechtsanwältin Ruth Anthea Kienzerle, Ignor & Partner GbR, Berlin und Frankfurt a.M.

Aus beck-fachdienst Strafrecht 15/2020 vom 06.08.2020

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Sachverhalt

A wurde durch das AG wegen Erschleichens von Leistungen in drei Fällen schuldig gesprochen. Ihm wurde vorgeworfen, in drei Fällen mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren zu sein, ohne im Besitz eines gültigen Fahrausweises gewesen zu sein. Nach den Urteilsfeststellungen verfügte A zwar über eine übertragbare Zeitkarte, führte diese indes bei den ihn vorgeworfenen Fahrten nicht bei sich. A hatte auch keinen neuen, zusätzlichen Fahrschein erworben, obwohl er als Zeitkartenerwerber gemäß den Vertragsbedingungen dazu für Fahrten, bei denen er seine Zeitkarte nicht bei sich führt, verpflichtet gewesen wäre. Die Berufung des A verwarf das LG als unbegründet.

Entscheidung

Auf die Sachrüge des A hob das BayObLG das Berufungsurteil auf und sprach A frei.

Bereits der objektive Tatbestand des § 265a StGB sei nicht erfüllt:

Es fehle an einem Vermögensschaden des betroffenen Verkehrsunternehmens, weil A bei den ihm vorgeworfenen Fahrten im Besitz einer Zeitkarte gewesen sei. Die Alternative der Beförderungserschleichung setze voraus, dass eine in Anspruch genommene Leistung tatsächlich nicht bezahlt wurde. Der Vermögensschaden liege dann in der unentgeltlichen Leistung des Transportunternehmens. Zwar habe A bei den Fahrten gegen die Vertragsbedingungen verstoßen, da er weder die Zeitkarte bei sich geführt noch einen neuen Fahrschein erworben habe. Das aber begründe keinen Vermögensschaden. Eine Zeitkarte erlaube beliebig viele Fahrten, sodass entsprechende Aufwendungen des Verkehrsunternehmens mit dem Bezahlen der Zeitkarte abgegolten seien.

Ein Verstoß gegen die Vertragsbedingungen begründe alleine keine Vermögensstraftat und vermöge eine tatsächlich bezahlte Fahrt nicht zu einer ohne Entgelt erbrachten Leistung herabzustufen. Ebenso wenig liege ein Vermögensschaden in der bloßen Möglichkeit, dass die übertragbare Zeitkarte während der vorgeworfenen Fahrten durch einen Dritten hätte benutzt werden können. Eine zeitgleiche Nutzung durch eine andere Person könne nicht einfach unterstellt werden, da dies auf eine Umkehrung der Unschuldsvermutung hinausliefe. Sei ein Missbrauch dergestalt, dass die übertragbare Zeitkarte zeitgleich zur vorgeworfenen Fahrt durch einen Dritten verwendet wurde nicht positiv feststellbar, reiche die bloß abstrakte und theoretische Möglichkeit einer Parallelnutzung für den objektiven Tatbestand des § 265a StGB nicht aus.

Zwar sei die Übertragung der Figur einer konkreten schadensgleichen Vermögensgefährdung auf den Tatbestand denkbar. Diese verlange aber, dass ernstlich mit wirtschaftlichen Nachteilen zu rechnen und die Gefahr eines endgültigen Verlusts eines Vermögensbestandteiles so groß sei, dass schon jetzt eine Minderung des Gesamtvermögens die Folge sei. Ohne konkrete Anhaltspunkte, dass eine Parallelnutzung im Einzelfall zu befürchten sei, liege daher eine konkrete Vermögensgefährdung nicht vor.

Das angefochtene Urteil sei daher aufzuheben und A freizusprechen gewesen.

Praxishinweis

Mit seiner Entscheidung schließt sich das BayObLG seiner früheren Rspr. (NJW 1986, 1504) an. Das ist zu begrüßen.

Schon damals hatte das Gericht klargestellt, dass ein Verstoß gegen die Beförderungsbedingungen und die daraus folgende nicht ordnungsgemäß durchgeführte Fahrt nicht gleichzusetzen sind mit einer strafbaren Beförderungserschleichung. Die vereinzelt anzutreffende Auffassung, bei übertragbaren Zeitkarten beziehe sich die kartenbezogene Nutzungsbefugnis darauf, dass irgendeine Person die Karte nutzen könne, diese dann aber zwangsläufig in ihrem Besitz haben müsse um die Nutzungsbefugnis über die Nutzungsperson zu konkretisieren, überzeugt nicht. Zwar ist es zutreffend, dass eine übertragbare Zeitkarte, die nicht mitgeführt wird, grundsätzlich von einem Dritten (zeitgleich) genutzt werden könnte. Das darf aber, wie das BayObLG nun (erneut) deutlich gemacht hat, nicht einfach zulasten des Karteninhabers unterstellt werden. Denn dann müsste der Betroffene unter Umkehrung der Unschuldsvermutung nachweisen, dass seine Fahrkarte nicht anderweitig benutzt wurde, was bei verlorenen Fahrkarten gänzlich unmöglich wäre. Das ist nicht angängig. Nicht jedes „Schwarzfahren“ führt eben zu einer strafbaren Beförderungserschleichung und das ist auch richtig so.