Urteilsanalyse
Kein Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft im tarifpluralen Betrieb
Urteilsanalyse
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Gelten in einem Betrieb zwei Tarifverträge und endet die unmittelbare und zwingende Tarifgebundenheit, steht einer tarifschließenden Gewerkschaft nach Ansicht des BAG kein Anspruch auf Unterlassung der Durchführung tarifwidriger Betriebsvereinbarungen zu.

13. Feb 2023

Anmerkung von
RAin Dr. Katrin Haußmann, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 05/2022 vom 09.02.2023

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Sachverhalt

Die Arbeitgeberin, Mitglied in einem Arbeitgeberverband, betreibt ein Eisenbahnverkehrsunternehmen. Der Arbeitgeberverband vereinbarte mit der antragstellenden und auch mit einer anderen Gewerkschaft Tarifverträge. Die Tarifverträge regelten u.a. die Dienst- und Schichtplanung. Die verschiedenen Tarifverträge enthielten Tariföffnungsklauseln zugunsten einer betrieblichen Regelung. Die Tariföffnungsklauseln waren nicht einheitlich gestaltet. Im Jahr 2019 schloss die Arbeitgeberin eine Betriebsvereinbarung zur Schicht- und Einsatzplanung mit dem bei ihr gewählten Betriebsrat ab. Die zwei im Betrieb vertretenen Gewerkschaften hatten befristet bis zum 31.12.2020 die Anwendung des § 4a II TVG abbedungen, so dass keinem der Tarifverträge Vorrang einzuräumen war. Im vorliegenden Verfahren beantragte eine der Gewerkschaften, die GDL, von der Arbeitgeberin die Durchführung der Betriebsvereinbarung zur Schicht- und Einsatzplanung zu unterlassen. Sie berief sich darauf, dass diese Betriebsvereinbarung nicht mit dem Tarifvertrag zwischen dem Arbeitgeberverband und der GDL vereinbar sei. Die Vorinstanzen hatten die Anträge abgewiesen. Die Rechtsbeschwerde der Gewerkschaft hatte keinen Erfolg. Im Verlauf des Rechtsbeschwerdeverfahrens schlossen die Arbeitgeberin und die antragstellende Gewerkschaft im Februar 2022 Nachfolge-Tarifverträge ab.

Entscheidung

Das BAG lehnte den Unterlassungsanspruch ab. Das Gericht sah sich nicht veranlasst, als Vorfrage die Verfassungswidrigkeit des § 4a TVG zu prüfen. Tarifverträge, auf die die Gewerkschaft ihren Unterlassungsanspruch stützte, galten aufgrund ihrer Ablösung durch die Nachfolgetarifverträge nicht mehr unmittelbar und zwingend. Die Rechtsbeschwerde sei auch nicht alleine deshalb erfolgreich, weil die Betriebsvereinbarung gegen § 77 III BetrVG verstieße. Für diesen Verstoß gegen die Tarifsperre sei ausreichend, dass die Schicht- und Einsatzplanung bereits im Tarifvertrag der antragstellenden Gewerkschaft geregelt war. Die betriebsverfassungsrechtliche Unterlassungsforderung der Gewerkschaft war im Ergebnis nicht erfolgreich, weil jedenfalls ein grober Verstoß i.S.d. § 23 III BetrVG nicht festzustellen sei. Der Maßstab werde hier dadurch bestimmt, dass sich im Fall der Anwendbarkeit kollidierender Tarifverträge mit verschieden gefassten Öffnungsklauseln für betriebliche Regelungen ungeklärte Rechtsfragen stellten. Diese Schwierigkeiten stünden der Feststellung eines groben Verstoßes entgegen, auch wenn § 77 III BetrVG verletzt sei.

Die Pressemitteilung des BAG (FD-ArbR 2023, 455317) lässt annehmen, dass die Revisionsentscheidung nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Prüfungsreihenfolge der Entscheidung des LAG München in der zweiten Instanz bestätigt. Das LAG ging davon aus, dass Gewerkschaften bei Verletzung ihrer Koalitionsfreiheit durch tarifwidrige Vereinbarung ein Unterlassungsanspruch zustehen könne. Zwei Anspruchsgrundlagen kämen in Betracht: Der Unterlassungsanspruch könne gestützt werden auf §§ 1004, 823 BGB i.V.m. der Koalitionsfreiheit, Art. 9 III GG, oder aber auf § 23 III BetrVG. Die erstgenannte Anspruchsgrundlage setze eine Verletzung der Koalitionsfreiheit voraus, also das Risiko die normative Geltung des Tarifvertrages beeinträchtigt werden könnte. Dies sei hier nicht der Fall. Bezogen auf den betriebsverfassungsrechtlichen Unterlassungsanspruch könne nur ein grober Verstoß die Unterlassung begründen. Solche Verstöße seien nicht anzunehmen, wenn eine schwierige und ungeklärte Rechtsfrage zu beantworten sei.

Praxishinweis

Die Entscheidung setzt die Rechtsprechung des BAG fort, wonach eine Gewerkschaft nicht generell befugt ist, vom Gericht die Unwirksamkeit einer Betriebsvereinbarung wegen eines Verstoßes gegen § 77 III BetrVG feststellen zu lassen (BAG, NZA 1999, 887; NZA 1989, 229). Schon diesem als „Burda-Beschluss“ bekannt gewordenen Beschluss hatte das BAG 1999 unter Verweis auf frühere Entscheidungen festgehalten, dass die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit von Betriebsvereinbarungen zunächst eine betriebliche Angelegenheit sei und die Gewerkschaft an diesem Rechtsverhältnis nicht beteiligt sei. Nur wenn die Gewerkschaft eigene Rechte verteidige, könne ein Unterlassungsanspruch entstehen. Dabei gelte es vor allem, die Gewerkschaft gegen Verletzungen ihrer Koalitionsfreiheit zu schützen, Art. 9 III GG. Darauf hatte auch das LAG München in der zweiten Instanz abgestellt.

BAG, Beschluss vom 25.01.2023 - 4 ABR 4/22 (LAG München)