Interview
Kein Stillstand der Rechtspflege
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FrauMann
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Die ukrainische Rechtsprofessorin Lidiia Moskvych musste wegen des Kriegs fliehen. Dank der Deutsch-Ukrainischen Juristenvereinigung konnte sie ein Stipendium in Deutschland annehmen. Wir sprachen mit ihr und dem Vereinsvorsitzenden Dr. Rainer Birke darüber, in welcher Lage Juristen in ihrer Heimat sind – und dass viele dennoch weiterarbeiten.

5. Mai 2022

NJW: Frau Professor Moskvych, was hat sich seit dem Kriegsausbruch am Alltag an der Universität geändert?

Moskvych: Es befanden sich zu dem Zeitpunkt circa 3.000 Studenten in Wohnheimen der Universität in Charkiw. Sie standen unter der Obhut der Hochschulverwaltung. Die Universitätsleitung hatte die Verantwortung bezüglich Evakuierung, Beschaffung von Lebensmitteln und medizinischer Versorgung. In der ersten Woche gab es durch den Krieg bereits zwei Todesfälle unter den Studenten. Einer davon starb durch eine Rakete, der zweite beim Beschuss eines zur Evakuierung eingesetzten Busses. Zu vielen Hochschülern, die sich jetzt in umkämpften Städten aufhalten, gibt es ­keinen Kontakt. Die Verwaltung und Mitstudenten verfolgen die Situation ständig und versuchen, jeden einzelnen Kommilitonen zu finden und zu erfahren, wo sie sind und ob sie in Sicherheit sind. Leider sind noch nicht alle Studenten gefunden worden.

NJW: Wie ist die Evakuierung der Studierenden konkret gelaufen?

Moskvych: Man weiß nur teilweise, was mit ihnen passiert ist. Es fanden gerade Examensprüfungen statt. Ein Teil hatte Glück und schon das Examen abgelegt und ist deshalb vor dem Krieg abgereist. Ein Teil war aber noch in Charkiw, um das Examen abzulegen. Diejenigen schafften es nicht, vor Kriegsausbruch aus der Stadt zu fliehen. Das war ein sehr großes Logistikproblem. Das fing damit an, dass der Transport von den Wohnheimen zum Bahnhof riskant war. Charkiw ist eine Millionenstadt, und es stürmten Hunderttausende zum Bahnhof. Viele Studenten wollten nur zu ihren Eltern, ohne sich Gedanken zu machen, ob das eine gute Entscheidung ist. Es gab viele, die nach Mariupol, Cherson und nach Mykolajiw wollten. In diesen Städten setzten dann wesentlich schlimmere Kriegshandlungen ein, aber zu diesem Zeitpunkt war man unvorbereitet.

NJW: Wie haben Juristen auf den Angriff reagiert?

Moskvych: Man hatte diesen Angriff fast nirgendwo erwartet. Das Rechtssystem stammt aus der Sowjetunion und ist aus deren Wurzeln entstanden. Man blickte deshalb auf Russland, ein Stück weit, wie auf einen Bruderstaat. Man konnte sich nicht vorstellen, dass ein Krieg dieses Ausmaßes ausbrechen würde. Erstmals habe ich verstanden, was passiert, als die Botschaft der USA aus Kiew nach Lviv evakuiert wurde. Gleichzeitig fand eine Evakuierung der Richter des Obersten Antikorruptionsgerichts statt, das vor wenigen Jahren eingerichtet wurde. Ich war ein wenig über diese Koinzidenz überrascht und vermutete, dass es da gute Kontakte geben muss. Bei anderen Gerichten schien derartiges nicht angekommen zu sein. Ich selbst wusste von nichts.

NJW: Wie hat die Justiz reagiert?

Moskvych: Im Südosten kamen am 24.2. bereits Anweisungen. Die Gerichte, die beschossen wurden, mussten ihre Tätigkeit einstellen. Das war eine offizielle Anweisung des Obersten Gerichtshofs. Soweit Gerichte deshalb ihre Arbeit einstellen mussten, wurde die Zuständigkeit auf andere Gerichte übertragen, die sich außerhalb aktiver Kriegshandlungen befinden. Die betroffenen Richter blieben sich selbst überlassen und waren im Schwebezustand. Ohne zu wissen, was sie machen sollen, sind sie geblieben. Erst jetzt hat die Justizverwaltung die Frage aufgeworfen, ob Richter von nicht arbeitenden Gerichten an die aktiven Gerichte versetzt werden sollen, um die Bearbeitung der Fälle zu erleichtern. Es gibt eine Anweisung, wonach dringende Fälle, wie beispielsweise die Änderung oder Verlängerung freiheitsentziehender Maßnahmen, zuerst zu behandeln sind. Bemerkenswerterweise gehörten Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft und des Nationalen Antikorruptionsbüros zu den ersten, die nach Lviv evakuiert wurden. Einige blieben trotzdem und setzten ihre Arbeit aus der Distanz fort, da es ohnehin unmöglich war, das Büro zu erreichen. Die Richter, die noch arbeiten konnten, schränkten ihre Tätigkeiten stark ein und beschränkten sich auf nicht aufschiebbare Fälle, insbesondere auf Haftentscheidungen und auf Fristen bei Haftentscheidungen. Wirtschafts- und Zivilsachen blieben liegen. Die Gerichte, die im Westen weiter von den Zentren der Kriegshandlungen entfernt waren, setzten hingegen unverändert ihre Arbeit fort.

NJW: Wie war das mit Menschen, die in einem besonderen Gewaltverhältnis zum Staat standen, ganz konkret Gefängnisinsassen?

Moskvych: Es gibt ein Gesetz vom 24.2., mit dem die Rechtsstellung der Verurteilten und Untersuchungsgefangenen geregelt wurde. Sie erhielten die Möglichkeit, einen Antrag auf Befreiung von Untersuchungshaft und Strafhaft zu stellen. Diese wurde gewährt, wenn sie über Kampferfahrung verfügten und bereit waren, in die Armee einzutreten.  Personen, die wegen Gewaltverbrechen gegen die Person (Mord, Raub, Vergewaltigung, schwere Körperverletzung) oder Kriegsverbrechen verurteilt oder inhaftiert wurden, waren jedoch von der Liste der Personen ausgeschlossen, die eine vorzeitige Entlassung beantragen konnten. Jeder Fall, jeder Antrag wurde von der Staatsanwaltschaft einzeln geprüft. Jenseits dieser Besonderheit ist mir nicht bekannt, dass es zu einer Verlegung von Strafgefangenen gekommen ist. Daran habe ich auch Zweifel.

NJW: Herr Dr. Birke, Sie beide kennen sich aus der Deutsch-Ukrainischen Juristenvereinigung. Welche Rolle hat diese Verbindung seit dem Kriegsbeginn gespielt?

Birke: Die Deutsch-Ukrainische-Juristenvereinigung hat einen sehr guten Kontakt zu der Rhein-Main-Hochschule in Wiesbaden. Dadurch war man in der Lage, Haushaltsmittel, die ohnehin für die Zusammenarbeit mit der Ukraine bestimmt waren, für vier Fellowships einzusetzen. So konnten wir zwei Vorstandsmitglieder der Deutsch-Ukrainischen Juristenvereinigung empfehlen. Dazu kamen noch eine Wirtschaftswissenschaftlerin und ein Wirtschaftswissenschaftler. Wir werden nun solche Bemühungen fortsetzen. Ich versuche es auch in Düsseldorf, da ist es jedoch etwas schwieriger. Ansonsten sind die ursprünglichen Pläne der Vereinigung durch den Krieg durchkreuzt worden. Wir mussten fast alle Veranstaltungen ersatzlos streichen und hoffen, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden können. Eine Konferenz soll nun am 20.5. zum Thema „Rechtliche und ökonomische Aspekte des Wiederaufbaus der Ukraine“ stattfinden.

NJW: Wie hilft die Deutsch-Ukrainische Juristenvereinigung geflüchteten Juristen, die nach Deutschland kommen?

Birke: Aktuell vermitteln wir vor allem spontan Hilfe, wenn Juristen hier arbeiten wollen. Den Bedarf gibt es, und wir unterstützen sie durch persönliche Kontakte. Wir haben uns vorgenommen, ein Netzwerk zu gründen; das läuft unter dem Arbeitstitel „Deutsch-Ukrainisches Juristisches Netzwerk“. Dahinter könnte nach unserer Vorstellung eine Facebook-Gruppe stehen, die von einer ukrainischen Juristin und einem deutschen Juristen moderiert wird. Insbesondere zwei Themen sollen da stattfinden. Das ist zum einen die Vermittlung am Arbeitsmarkt sowie in gemeinnützige Tätigkeiten. Zum anderen soll es eine Vermittlung von Rechtsberatung geben. Hierzu soll auch eine Internetseite eingerichtet werden, auf der unsere Mitglieder Angebote machen können.

NJW: Inwiefern haben Sie noch Kontakt zu Juristen in der Ukraine?

Birke: Ich habe Kontakt zu Kollegen in der Ukraine. Sie versuchen ihre Arbeit fortzusetzen, soweit Beratung gewünscht ist, und fragen auch nach Beratungsbedarf in Deutschland. Die männlichen Kollegen kämpfen gleichzeitig im Krieg. Sie wollen ihre Tätigkeit als selbstständige Rechtsanwälte soweit wie möglich fortsetzen und tun gleichzeitig ihren Dienst an der Waffe.

Prof. Dr. Lidiia Moskvych ist Leiterin des Lehrstuhls für gerichtliche und staatsanwaltliche Tätigkeit an der Nationalen Juristischen Jaroslav-Mudry-Universität in Charkiw. Sie ist spezialisiert auf Fragen des Verfahrensrechts, insbesondere des Gerichtswesens, des Status von Richtern und der Gerichtsorganisation. Sie ist Mitglied im Vorstand der Deutsch-Ukrainischen ­Juristenvereinigung. Rechtsanwalt Dr. Rainer Birke ist Fachanwalt für Strafrecht in der wirtschaftsstrafrechtlichen Kanzlei Wessing & Partner in Düsseldorf. Er ist Vorsitzender der Deutsch-Ukrainischen Juristenvereinigung.

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Interview: Moritz Flocke.