Urteilsanalyse
Kein sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen durch Stiefgroßvater
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Die Stiefkinder der eigenen Abkömmlinge sind nicht vom Schutzbereich des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfasst. Dies hat der Bundesgerichtshof entschieden.

3. Dez 2021

Anmerkung von 

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Rechtsanwalt Dr. Nicolas Böhm, Ignor & Partner GbR, Berlin  

Aus beck-fachdienst Strafrecht 24/2021 vom 02.12.2021

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Sachverhalt

Das LG hat den Angeklagten (A) u.a. wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen übernahm der A über einem Zeitraum von 1,5 Jahren alle zwei Wochen nachmittags für ein bis zwei Stunden die Betreuung seiner Stiefenkelin. Der Sohn des A war mit der Mutter des Mädchens verheiratet, ohne dessen Vater zu sein. Von Anfang 2018 bis zum September 2019 nutzte der A die gemeinsame Zeit mit dem damals 15- bzw. 16-jährige Mädchen, um dieses, begleitet von anzüglichen Bemerkungen, an den Armen und Schultern, später auch an Gesäß und an Brust zu streicheln, um sich sexuell zu erregen. Dabei erlitt das Mädchen immer wieder blaue Flecken.

Entscheidung

Auf die Revision des A hob der BGH die Verurteilungen wegen Missbrauchs von Schutzbefohlenen auf. § 174 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB schütze nur leibliche oder rechtliche Abkömmlinge des Täters oder Abkömmlinge seines Ehegatten bzw. Lebenspartners. Unter diesen geschützten Personenkreis falle die Stiefenkelin hier nicht. Sie sei kein leiblicher Abkömmling, weil sie nicht in gerade Linie vom A abstamme (§ 1589 BGB). Ferner unterfalle sie auch nicht als rechtlicher Abkömmling des A dem Schutzbereich der Norm. Rechtliche Abkömmlinge eines Mannes seien adoptierte Kinder, die nach § 1754 BGB die rechtliche Stellung eines Kindes des Annehmenden erlangen, oder Kinder, die nach § 1592 Nr. 1-3 BGB rechtlich einem Mann zugeordnet werden, ohne von diesem abzustammen. Das LG habe nicht festgestellt, dass der Stiefvater des Mädchens, also der Sohn des A, bereits bei der Geburt mit dessen leiblicher Mutter verheiratet gewesen sei, oder er das Kind adoptiert habe. Auch die Feststellung des LG, der A sei der Stiefgroßvater, eröffne nur dann den Schutzbereich des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB, wenn es sich bei dem Stiefenkel um Abkömmlinge des Ehe- oder Lebenspartners des Täters bzw. einer Person, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft lebt, handele. Stiefkinder der eigenen Abkömmlinge fallen hingegen nicht unter die Vorschrift. Dieses Verständnis entspreche dem Willen des Gesetzgebers auch nach der im Jahr 2015 vorgenommenen Erweiterung des Schutzbereichs.

Praxishinweis

Der Entscheidung des BGH ist im Ergebnis zuzustimmen, überzeugt in der Begründung aber nur zum Teil. Zwar führt der 2. Strafsenat zunächst zutreffend aus, dass die Stiefenkelin weder leiblicher noch rechtlicher Abkömmling des A ist. Soweit der Senat allerdings anschließend ausführt, dass die offenbar täterbegründende Feststellung des LG, wonach der A der Stiefgroßvater des Mädchens gewesen sei, aufgrund des gesetzgeberischen Willens nicht den Schutzbereich des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB eröffnen würde, trifft dies nur bedingt zu. Dass Stiefkinder der eigenen Abkömmlinge nicht unter die Vorschrift fallen, lässt sich so der Gesetzesbegründung nicht entnehmen. Dem Gesetzgeber ging es darum, die soziale Bedeutung von Lebensverhältnissen, die der Elternschaft ähnlich sind, nicht zu vernachlässigen und den Schutz von Jugendlichen im engsten sozialen Umfeld möglichst lückenlos auszugestalten (BT-Drucks. 18/2601, S. 26). Diese Intention würde vielmehr dafür sprechen, den vorliegenden Fall unter § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB zu fassen, zumal so auch schwer nachzuvollziehende Wertungswidersprüche verhindert werden könnten. Freilich steht einem solchen Vorgehen der, de lege ferenda zu ändernde, Wortlaut der Norm entgegen. De legal lata sind Stiefkinder der eigenen Abkömmlinge nicht in den Schutzbereich der Norm aufgenommen. Insofern ist die Entscheidung des LG, den Stiefgroßvater dennoch gem. § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB zu verurteilen, nichts anders als eine täterbelastende Analogie. Diesen Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) nennt der 2. Strafsenat jedoch nicht klar beim Namen. Ein nachvollziehbarer Grund hierfür erschließt sich nicht ohne Weiteres.

BGH, Beschluss vom 22.06.2021 - 2 StR 131/21 (LG Darmstadt), BeckRS 2021, 35285