Standpunkt
Kein Respekt für das Recht
Standpunkt
Missbrauch_Schrumpfversion
© motortion/adobe.stock.com
Missbrauch_Schrumpfversion

Nach dem aktuellen Missbrauchsfall in Nordrhein-Westfalen, der seit einigen Wochen die Öffentlichkeit erschüttert, fordern Politiker die Heraufstufung des § 176 StGB zu einem Verbrechen. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hat jetzt einen entsprechenden Reformvorschlag präsentiert. Doch das ist nur eine Scheinlösung. Ein Klagelied über die Einfallslosigkeit deutscher Kriminalpolitik.

2. Jul 2020

Nach dem Fall Lügde, dessen Ermittlungen immer noch nicht abgeschlossen sind, erschüttert ein zweiter Fall das Bundesland Nordrhein-Westfalen. Von November 2018 bis Mai 2020 hatten mehrere Männer drei Jungen sexuell missbraucht und ihre Taten im Darknet verbreitet. Die Reaktion der Politik war vorherzusehen. Reflexhaft werden höhere Strafen für Sexualdelikte an Kindern gefordert. Obwohl gegen die Hauptangeklagten im Fall Lügde Freiheitsstrafen von zwölf und 13 Jahren verhängt wurden, soll der Strafrahmen für den „einfachen“ sexuellen Kindesmissbrauch (§ 176 I und II StGB) – der Tatbestand soll nach dem Vorschlag des BMJV umbenannt werden – auf mindestens ein Jahr heraufgesetzt werden. Die Ausgestaltung dieses Delikts als Verbrechen ist ein langgehegter Wunsch konservativer Kriminalpolitik.

Eine Notwendigkeit dazu besteht freilich nicht. Schon jetzt sieht das geltende Recht für Geschlechtsverkehr mit Kindern, für gemeinschaftlichen Missbrauch oder für die Absicht, durch solche Taten Kinderpornografie herzustellen und zu verbreiten, mindestens zwei Jahre Freiheitsstrafe vor. Der Strafrahmen für diese Taten ist bis zum Höchstmaß der zeitigen Freiheitsstrafe – immerhin 15 Jahre – offen. Wenn, wie der Polizeipräsident von Münster kommentierte, „selbst die erfahrensten Kriminalbeamten an die Grenzen des menschlich Erträglichen gestoßen sind“, ist im Fall einer Verurteilung mit sehr hohen Freiheitsstrafen zu rechnen, eine anschließende Sicherungsverwahrung noch gar nicht eingerechnet. Diese Taten liegen weit über dem „einfachen“ Kindesmissbrauch. Um sie angemessen aburteilen zu können, ist die Heraufstufung des § 176 StGB zu einem Verbrechen gewiss nicht notwendig.

Keine Abschreckung durch höhere Strafen

Mantraartig werden derartige Verschärfungen damit begründet, sie seien notwendig, um diese Straftaten effektiv zu bekämpfen und andere von ihrer Begehung abzuschrecken. Über wenige Punkte herrscht in der Kriminologie eine so weitgehende Einigkeit wie über die fehlende Abschreckungswirkung höherer Strafen. Beispielsweise ist in den USA die Kriminalitätsbelastung durchweg deutlich höher, obwohl die Strafen viel schärfer und die Gefängnisse viel voller sind. Auf der anderen Seite liegen etwa die Strafdrohungen für Sexualdelikte in Österreich und Schweiz deutlich unter dem deutschen Maß. Aber niemand hat bislang vernommen, dass beide Alpenländer ein El Dorado für Kinderschänder seien. Bemerkenswerterweise hat die Kommission zur Reform des Sexualstrafrechts in ihrem Abschlussbericht das Gegenteil empfohlen. Mit deutlicher Mehrheit wird die Wiedereinführung eines minder schweren Falls bei § 176 I und II StGB vorgeschlagen. Dies entspreche dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der großen Bandbreite möglicher sexueller Handlungen. Kürzere körperliche Berührungen müssten nicht mit mindestens sechs Monaten bestraft werden. Hier sei bereits eine Geldstrafe unrechts- und schuldangemessen.

Strafrecht ist keine Beruhigungspille

Das Ärgerliche an den aktuellen Forderungen ist, dass sie jeglichen Respekt vor dem (Straf-)Recht vermissen lassen. Es wird so getan, als wäre das geltende Strafrecht defizitär und als wären diese Mängel mitschuldig an dem Leid, das den Kindern angetan wurde. Aber das ist nicht der Fall. Kein einziger potenzieller Täter wird sich von einer höheren Strafdrohung abschrecken lassen, einfach deshalb, weil er davon ausgehen kann, wahrscheinlich nicht erwischt zu werden. Statt Gesetzesänderungen wären andere Maßnahmen notwendig: Um Straftaten in diesem Bereich effektiver aufzuklären, müssten die personelle und sachliche Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden, aber dringend auch die Zusammenarbeit zwischen Jugendämtern und Familiengerichten verbessert werden. Wie man hört, war der einschlägig vorbestrafte Hauptverdächtige Ziehvater eines der Opfer. Trotz seiner bekannten pädophilen Neigung sah das Familiengericht keinen Anlass, den Jungen aus der Familie zu nehmen. Das gleiche Muster wie im Staufener Missbrauchsfall, aber die Politik sieht nicht hin. Stattdessen dient – wieder einmal – das Strafrecht als Beruhigungspille. Genau genommen ist das Populismus. •

Prof. Dr. Joachim Renzikowksi lehrt unter anderem Strafrecht und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.