Urteilsanalyse
Kein Durchführungsanspruch des Arbeitnehmers auf ein bEM
Urteilsanalyse
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§ 167 II 1 SGB IX begründet nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts keinen Individualanspruch der betroffenen Arbeitnehmer auf Einleitung und Durchführung eines betrieblichen Eingliederungs­managements (bEM).

28. Feb 2022

Anmerkung von
RA Prof. Dr. Jobst-Hubertus Bauer, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 07/2022 vom 24.02.2022

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Sachverhalt

Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Einleitung und Durchführung eines bEM hat. Zwischen dem Kläger, der mit einem GdB von 30 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt ist, und der beklagten Gemeinde besteht seit dem 03.07.2000 ein Arbeitsverhältnis. Der Kläger wurde zunächst im Bereich „Bauhof“ eingesetzt. Mit Wirkung zum 01.01.2016 versetzte ihn die Beklagte in den Bereich „C“. Im Jahr 2018 war der Kläger an 122 Arbeitstagen krankheitsbedingt arbeitsunfähig, im Jahr 2019 vom 01.01. bis zum 25.08. an 86 Arbeitstagen. Mit anwaltlichem Schreiben vom 02.08.2019 verlangte der Kläger die Durchführung eines bEM. Die Beklagte lehnte dies mit Schreiben vom 19.08.2019 ab.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er habe unmittelbar aus § 167 II SGB IX, jedenfalls aber aus § 167 II SGB IX i.V.m. dem Gebot der Rücksichtnahme (§ 241 II BGB) einen Anspruch auf Einleitung und Durchführung eines bEM, weil er in den Jahren 2018 und 2019 – wie auch in den Folgejahren – jeweils länger als sechs Wochen krankheitsbedingt arbeitsunfähig gewesen sei. Der Kläger hat zuletzt beantragt, die Beklagte zu verurteilen, mit ihm ein bEM gemäß § 167 SGB IX durchzuführen und zu klären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und sein Arbeitsplatz erhalten werden könne.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Das ArbG hat der Klage stattgegeben. Das LAG hat die Klage, soweit der Kläger die Durchführung eines bEM verlangt, als unzulässig und i.Ü. als unbegründet abgewiesen.

Entscheidung

Die gemäß § 71 II Nr. 2 ArbGG zugelassene Revision sei nicht begründet. Der Kläger könne die Klageforderung nicht auf § 167 II 1 SGB IX stützen. Dies ergäbe die Auslegung der Norm. Für die Auslegung sei der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergebe. Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption dem Gesetz zugrunde liege, komme den Gesetzesmaterialien und der Systematik des Gesetzes Indizwirkung zu. Nach § 167 II 7 SGB IX könnten die zuständige Interessenvertretung i.S.d. § 176 SGB IX, bei schwerbehinderten Menschen außerdem die Schwerbehindertenvertretung, die nach § 167 II 1 SGB IX gebotene Klärung verlangen. Sie würden nach § 167 II 8 SGB IX darüber wachen, dass der Arbeitgeber die ihm nach dieser Vorschrift obliegenden Verpflichtungen erfülle. Entsprechende Rechte und Aufgaben sehe die gesetzliche Regelung für die betroffenen Arbeitnehmer dagegen nicht vor. Die Regelungssystematik lasse zudem darauf schließen, dass § 167 II 7 SGB IX Rechtsschutzdefizite in Kauf genommen habe, die entstehen könnten, weil die tatsächliche Einleitung und Durchführung des bEM rechtlich nicht durch einen Individualanspruch des Arbeitnehmers abgesichert sei. Auch die Systematik des SGB IX bestätige dieses Verständnis. Kapitel 3 des Teils 3 des SGB IX unterscheidet zwischen sonstigen Pflichten der Arbeitgeber und Rechten der (schwerbehinderten) Arbeitnehmer und bringe damit zum Aus­druck, dass nicht jeder Pflicht des Arbeitgebers ein ent­sprechender Anspruch bzw. ein entsprechendes Recht des Arbeitnehmers gegenüberstehe. Ein abweichendes Auslegungsergebnis könne aus den Gesetzesmaterialien nicht abgeleitet werden. Weder die Richtlinie 2000/78/EG noch die Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention verlangten ein bestimmtes Verfahren zur Ermittlung angemessener Vorkehrungen. Ein Anspruch des Klägers auf Einleitung und Durchführung eines bEM ergebe sich auch nicht aus dem Gebot der Rücksichtnahme als vertragliche Nebenpflicht aus § 241 II BGB i.V.m. § 167 II SGB IX
oder einer Konkretisierung der Schutzpflichten des Arbeitgebers aus § 618 BGB. Dem stehe der in der Gesetzessystematik zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers entgegen.

Praxishinweis

Der Entscheidung ist zuzustimmen. Die Gerichte müssen die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren, nur den in § 167 II 2 SGB IX genannten Stellen, nicht aber betroffenen Arbeitnehmern einen Anspruch auf Durchführung des bEM einzuräumen, so völlig zu Recht der 9. Senat. Die Grenzen zulässiger Auslegung und richterlicher Rechtsfortbildung wären überschritten, würde aus dem Gebot der Rücksichtnahme- bzw. der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers eine Rechtsfolge abgeleitet, die der Gesetzgeber mit § 167 II SGB IX bewusst ausgeschlossen hat.

BAG, Urteil vom 07.09.2021 - 9 AZR 571/20 (LAG Nürnberg), BeckRS 2021, 43832