Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 04/2021 vom 26.02.2021
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Sachverhalt
Der 1950 geborene Kläger lebt seit 2012 in Ungarn. Er bezieht von der beklagten deutschen Rentenversicherung eine Regelaltersrente seit dem 01.03.2016. Die Voraussetzungen der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) erfüllt der Kläger nicht. Seit 2012 ist er in Ungarn gesetzlich krankenversichert. Die Versicherung beruht auf einer Anmeldung, die der Kläger selbst vorgenommen hat, was aber nichts an der Versicherungspflicht ändert.
Der Kläger begehrt von der Beklagten einen Zuschuss zu dieser Versicherung, und zwar gem. § 106 SGB VI. Seine Mitgliedschaft sei i.S.d. Vorschrift eine freiwillige Mitgliedschaft. Die Beklagte lehnt ab; das SG verurteilt die Beklagte zur Zahlung eines Zuschusses. Der Kläger sei zwar nicht freiwillig in der (deutschen) Krankenversicherung und auch nicht “bei einem Krankenversicherungsunternehmen, dass der deutschen Aufsicht unterliegt“ versichert. Seine Krankenversicherung in Ungarn sei jedoch der zweiten Alternative des § 106 Abs. 1 Satz 1 SGB VI gleichzustellen. Der Kläger sei bei einem Krankenversicherungsunternehmen i.d.S. versichert. Das Tatbestandsmerkmal der Freiwilligkeit bezieht sich ausschließlich auf eine freiwillige Mitgliedschaft in einer (inländischen) gesetzlichen Krankenversicherung. Dagegen richtet sich die Berufung der DRV. Die Versicherung in Ungarn sei eine Pflichtversicherung und nicht eine „freiwillige“ i.S.d. § 106 SGB VI.
Entscheidung
Das LSG gibt der Berufung statt und weist die Klage ab. Nach § 106 Abs. 1 Satz 1 SGB VI erhalten Rentenbezieher, die freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung oder bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichert sind, zu ihrer Rente einen Zuschuss. Dies gilt nicht, wenn die Rentenbezieher gleichzeitig in einer in- oder ausländischen gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert sind. Die Versicherung in Ungarn ist eine Pflichtversicherung, unbeschadet der Tatsache, dass der Kläger dieser „freiwillig“ beigetreten ist. Es handelt sich nach Auffassung des Senats um eine gesetzliche Mitgliedschaft. Aus den aus Ungarn vorgelegten Unterlagen folgt, dass eine Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen für Dienstleistungen des Gesundheitswesens bestehe. Für Bezieher (allein) einer Rente eines anderen Mitgliedsstaats besteht die Möglichkeit, eine Befreiung von der Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen zu erlangen, wenn sie nachweisen können, dass sie einen Sachleistungsanspruch gegenüber einem Kostenträger des die Rente zahlenden Mitgliedsstaats haben. Die Auffassung des Klägers, er hätte ja anstelle der Versicherung in Ungarn eine private Krankenversicherung gegebenenfalls auch in Deutschland abschließen können, ändert nichts daran und begründet keinen Beitragszuschuss.
Ein Zuschuss kann auch deshalb nicht gewährt werden, weil der Kläger – so der Senat ausdrücklich – tatsächlich der Versicherungspflicht in der deutschen Krankenversicherung unterliegt, und zwar gem. § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V. Die in Ungarn bestehende Krankenversicherung des Klägers ist nicht als anderweitiger Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V anzusehen. Dies auch nicht nach EU-Recht. Eine nationale Regelung, die auf einem Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall in Ungarn ausschließlich aufgrund des Wohnortes verweist, vermag hier durch vorrangiges EU-Recht bestimmte Anwendungen der deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit nicht zu verdrängen. § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V sei nicht dahingehend auszulegen, dass bei Personen wie dem Kläger auch ein Anspruch auf Leistungen bei Krankheit nach dem ungarischen Recht diesen Versicherungspflichttatbestand „verdrängen“ kann.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf eine anteilige Tragung seiner Beiträge zur ungarischen Versicherung entsprechend § 249a SGB V. Der Anspruch des in einem anderen Mitgliedsstaat wohnenden Beziehers einer deutschen Rente auf eine Zulage zu den Aufwendungen für die Krankenversicherung kann zwar grundsätzlich unter Berücksichtigung des Urteils des EuGH vom 06.07.2000 (BeckRS 2004, 77748) auf eine entsprechende Anwendung des § 249a SGB V in der jeweils einschlägigen Fassung gestützt werden. Jedoch wird der Beitrag zur ungarischen Krankenversicherung unabhängig von der deutschen Rente als Pauschalbeitrag festgelegt, so dass der Kläger keine „nach der Rente zu bemessende Beiträge“ zu seiner Krankenversicherung i.S.d. § 249a SGB V zahlt.
Praxishinweis
1. Es erscheint durchaus plausibel, die in Ungarn eingerichtete Krankenversicherung als eine Pflichtversicherung i.S.d. § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB VI anzusehen – was einen Zuschuss ausschließt. Wer hier KVdR-Pflichtmitglied ist, trägt zur KVdR nur den halben Beitrag, so § 249a SGB V. Die andere Hälfte trägt die Rentenversicherung – analog der paritätischen Beitragszahlung im Falle pflichtversicherter Beschäftigter, Krankengeldbezieher etc. Das Argument des LSG, § 249a SGB V beschränke diese Art der paritätischen Beitragstragung auf die Fälle, in denen sich der Beitrag zur Krankenversicherung der Höhe nach an der Rentenhöhe orientiert, überzeugt weder nach dem Wortlaut, noch nach dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift.
2. Die VO(EG) Nr. 883/2004 unterstützt die Freizügigkeit dadurch, dass Personen, die in der EU von ihren Möglichkeiten der Freizügigkeit Gebrauch machen, in Bezug auf die Sozialleistungen nicht diskriminiert werden dürfen. Ein im Lichte der VO überzeugender Grund dafür, dass ein in Ungarn lebender Bezieher der Regelaltersrente keinen Beitragszuschuss zur Krankenversicherung erhält, ist nicht ersichtlich. Das EU-Recht prüft solcherart Ungleichbehandlung sehr kritisch (dazu allg. Stahlberg, in: MAH Sozialrecht, 5. Aufl. 2018, § 3 Rn. 37) Das Argument des LSG, der Kläger sei hier pflichtversichert nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V überzeugt nicht: Die Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V gilt nur und ausschließlich für Personen, die im Inland ihren Wohnsitz haben. Dies folgt aus § 3 SGB IV. Die vom LSG konstruierte Krankenversicherungspflicht des in Ungarn lebenden Rentenbeziehers gem. § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V verschafft dem Kläger in Ungarn keinen Sachleistungsanspruch und auch keinen Anspruch auf Kostenerstattung. Der Kläger hat – so ist der Sachverhalt zu verstehen – seinen Wohnsitz endgültig nach Ungarn verlegt.
3. Nach den Andeutungen im Urteilstext beläuft sich der monatliche Beitrag zur Krankenversicherung in Ungarn auf rund 20 EUR - ein Aufwand, der in der Tat nicht vergleichbar ist mit den deutschen Verhältnissen. Verglichen mit dem in Deutschland fälligen Beitrag könnte man dem Kläger also entgegenhalten, dass seine Aufwendungen für die ungarische Krankenversicherung so gering sind, dass er sie auch aus der Perspektive einer vergleichbaren Situation des Altersrentners in der Bundesrepublik von ihm allein getragen werden kann. Ob das aber wirklich die Ungleichbehandlung rechtfertigt, müsste man sehr sorgfältig prüfen.
4. Inländische Rentner zahlen aus Versorgungsbezügen, die sie neben der gesetzlichen Rente erhalten, den vollen Beitrag. Diese Beitragslast verstoße – so das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 28.02.2008 (BeckRS 2008, 33784) und vom 09.07.2018 (BeckRS 2018, 20221) nicht gegen den Gleichheitssatz. Das LSG Nordrhein-Westfalen hat darauf in seinem Beschluss vom 07.12.2020 (BeckRS 2020, 36433) ausdrücklich Bezug genommen. Ob auch aus heutiger Sicht der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers so weitgehend ist, erscheint zweifelhaft. Dennoch muss man berücksichtigen, dass der Gesetzgeber neuerdings bei den Versorgungsbezügen den Freibetrag erhöht hat (§ 226 Abs. 2 SGB V).
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.11.2020 - L 9 R 4190/18, BeckRS 2020, 40794