Urteilsanalyse
Kanzleiorganisation beim Versenden über das beA
Urteilsanalyse
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Der Kernbereich anwaltlicher Aufgaben bei der Kommunikation über das beA mit den Gerichten, der nicht auf nichtanwaltliche Mitarbeitende übertragen werden kann, umfasst nach Ansicht des BSG auch die Bezeichnung des richtigen Gerichts und des zutreffenden Aktenzeichens und vor allem das Anbringen der qualifizierten elektronischen Signatur. 

Martin Schafhausen, 26. Jan 2024.

Rechtsanwalt Martin Schafhausen, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 01/2024 vom 19.01.2024

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Sozialversicherungsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Sozialversicherungsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Sozialversicherungsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de

 

Sachverhalt

In einer Rentenangelegenheit hatte das Landessozialgericht die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Das Urteil wurde dem Bevollmächtigten des Klägers unter dem 01.03.2023 (Fristende NZB 03.04.2023, NZBB 02.05.2023) zugestellt. Gegen die Nichtzulassung der Revision legte er am 17.03.2023 Beschwerde ein. Mit einem an das LSG gerichteten Schriftsatz vom 25.04.2023 beantragte der Kläger unter Angabe des Aktenzeichens „L 19 R 145/23 B (Beschw gg Beschl SG 08.03.23)“, die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde bis zum 31.05.2023 zu verlängern. Der Schriftsatz erreichte das LSG am 25.04.2023 um 11:20 Uhr. Unter dem angegebenen Aktenzeichen war dort ein Beschwerdeverfahren wegen der Kostentragung des im erstinstanzlichen Klageverfahrens eingeholten Gutachtens nach § 109 SGG anhängig. Mit Schriftsatz vom 26.04.2023 hat sich der für das Beschwerdeverfahren am LSG zuständige Berichterstatter an den Prozessbevollmächtigten des Klägers gewandt und ihn darauf hingewiesen, dass unter dem angegebenen Aktenzeichen kein Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren anhängig sei, sondern die von ihm eingelegte Beschwerde gegen den Beschluss des SG, die er bereits begründet habe. Er bat um Klarstellung. Eine Reaktion erfolgte nicht.

Mit Schreiben vom 04.05.2023 wies die Berichterstatterin des BSG den Kläger auf das Verstreichen der Beschwerdebegründungsfrist hin.

Mit Schriftsatz vom 19.05.2023 stellte der Kläger einen Wiedereinsetzungsantrag und begründete den Antrag im Wesentlichen wie folgt: Er habe den Fristverlängerungsantrag mit einem Spracherkennungsprogramm diktiert und dabei an das BSG adressiert. Anschließend sei der Antrag von seiner Angestellten, eine ausgebildete Rechtsanwaltsfachangestellte, die immer gewissenhaft und sorgfältig arbeite, geschrieben und versandt worden. Hierbei sei ihr bei der Adressierung ein Fehler unterlaufen. Sie habe ein an das LSG adressiertes Schreiben ausgedruckt, per beA an das LSG übersandt, nach Zustellung die Frist gelöscht und die neue Frist inklusive Vorfrist notiert. Zu ihren Pflichten habe es auch im vorliegenden Fall ua gehört, zu kontrollieren, dass der Fristverlängerungsantrag an das BSG gerichtet sei. Er habe sich darauf verlassen dürfen, dass der Schriftsatz ordnungsgemäß entsprechend dem Diktat verfasst und an das BSG übersandt werde. Den Ausgang des Fristverlängerungsantrags und die Änderung der Frist habe er durch Abfrage der Bestätigung der Angestellten und anhand des Fristenkalenders kontrolliert. Erst durch das Schreiben des BSG vom 04.05.2023, eingegangen am 08.05.2023, sei der Fehler bemerkt worden.

Entscheidung

Das BSG verwarf die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig, sie sei nicht fristgerecht begründet; eine Wiedereinsetzung komme nicht in Betracht.

Das BSG stellt seiner Begründung folgenden „Obersatz“ voran, der – um aufzuzeigen, was Gegenstand der Prüfung eines Wiedereinsetzungsantrags ist – im Wesentlichen wörtlich wiedergegeben werden soll:

Wiedereinsetzung ist nach § 67 Abs. 1 SGG zu gewähren, wenn ein Beteiligter ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten.  Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind glaubhaft zu machen. „Dazu muss jedenfalls ein rechtskundiger Prozessbevollmächtigter iS des § 73 Abs. 4 Satz 2 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren (vgl. den unterschiedlichen Wortlaut des § 67 Abs. 2 SGG und von § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO bzw. § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO) die maßgebenden Tatsachen durch eine geschlossene und aus sich heraus verständliche Schilderung der tatsächlichen Abläufe darlegen. Sie muss aufzeigen, auf welchen konkreten Umständen die Fristversäumnis beruht und auf welche Weise sowie – soweit aufklärbar – durch wessen Verschulden es zur Versäumung der Frist gekommen ist (vgl. BSG Beschluss vom 14.07.2021 – B 5 R 146/21 B – juris Rn. 6 unter Hinweis auf BGH Beschluss vom 20.10.2020 – VIII ZA 15/20 – juris Rn. 14 mwN). Auf Grundlage dieser Schilderung muss, sofern die genannten Tatsachen nicht anderweitig infrage gestellt werden, ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sein (vgl. BSG Beschluss vom 16.03.2022 – B 5 R 298/21 R – juris Rn. 7).“

Diese Sorgfaltsanforderungen erfülle der Vortrag des Klägers nicht. Seinem Vortrag sei nicht zu entnehmen, dass er den Fristverlängerungsantrag

• vor der Unterzeichnung mittels qualifizierter elektronischer Signatur (qeS)

• auf die richtige Bezeichnung des Gerichts und

• das Aktenzeichen

überprüft habe. Aus seinem Vortrag habe nach dem Diktat bis zur Absendung des Fristverlängerungsantrags durch seine Mitarbeiterin überhaupt keine Kontrolle durch ihn selbst stattgefunden. Er habe sich allein bestätigen lassen, dass der Antrag von seiner Mitarbeiterin abgeschickt und die Frist im Fristenkalender geändert worden sei. Es sei nicht zu erkennen, auf welche Weise die qeS zustande kam (neben den von dem Senat in seiner Entscheidung zitierten Fundstellen aus Rechtsprechung und Literatur vgl. dazu auch BSG, FD-SozVR 2023, 820099 m. Anm. Schafhausen; zust. auch Keller, jurisPR-SozR 1/2024 Anm. 1).

Selbst wenn der Bevollmächtigte davon ausgegangen sein sollte, dass sein Antrag auf Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist korrekt abgesandt worden sei, so liege eine Verletzung der Sorgfaltspflicht darin, dass er nicht bei Gericht nachgefragt habe, ob mit einer Bewilligung der Fristverlängerung zu rechnen sei.

Schließlich sei eine Sorgfaltspflichtverletzung darin zu erkennen, dass er auf das Schreiben des Berichterstatters im Beschwerdeverfahren vor dem LSG nicht reagiert habe; die fehlerhafte Adressierung des Fristverlängerungsantrags habe sich ihm aufdrängen müssen.

Praxishinweis

1. Die Entscheidung des BSG zeigt auf, dass es bei der Übermittlung von (fristwahrenden) Schriftsätzen einen Kernbereich der Tätigkeiten und Aufgaben gibt, der von Rechtsanwälten nicht an das Kanzleipersonal übertragen werden darf, ohne für den Fall der Fristversäumnis eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gefährden. Es ist anwaltliche Aufgabe vor dem Anbringen der qeS den Schriftsatz auf die richtige Adressierung und daraufhin zu überprüfen, dass das richtige Aktenzeichen angebracht wurde. Der BGH verlangt insoweit auch, dass sich die automatisierte Eingangsbestätigung gem. § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO (§ 65a Abs. 5 Satz 2 SGG) auf die Datei mit dem Schriftsatz bezieht, dessen Übermittlung erfolgen sollte (BGH, BeckRS 2023, 9511: sprechende Dateibezeichnung; BGH, BeckRS 2023, 26314).

Ohne Zweifel zum Kernbereich anwaltlichen Handelns bei der Übermittlung von Dokumenten über das beA gehört es, die qeS anzubringen oder – um diese Sachverhaltsgestaltung ging es in der zu besprechenden Entscheidung nicht – das Dokument unsigniert aus dem eigenen Postfach zu übermitteln (sicherer Übermittlungsweg i.S.v. § 65a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGG). Die Weitergabe der anwaltlichen beA-Karte und der Zugangs-PIN (wie des anwaltlichen Softwarezertifikats) sind nach § 26 Abs. 1 RAVPV nicht gestattet (BGH, BeckRS 2023, 26314 mit vorsichtig kritischer Anm Toussaint, FD-ZVR 2023, 460756).

2. Dass der Bevollmächtigte des Klägers nicht schuldlos an der Fristversäumnis war, da er auf den Hinweis des Berichterstatters des Beschwerdeverfahrens vor dem Landessozialgericht nicht reagiert hat, liegt auf der Hand.

3. Schwer tue ich mich jedoch mit der weiteren, vom BSG angenommen Sorgfaltspflicht, wonach der Bevollmächtigte trotz fehlender Rückmeldung des BSG auf den Fristverlängerungsantrag verpflichtet gewesen sein soll, vor Fristablauf Rücksprache mit dem Gericht zu halten, ob mit der Bewilligung der Fristverlängerung zu rechnen sei. Denn es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass Fristen – abzüglich einer gewissen zeitlichen Sicherheitsreserve (vgl. dazu zuletzt BVerwG, BeckRS 2023, 26059 mit Anm Schafhausen, FD-SozVR 2023, 820099) ausgeschöpft werden können, so dass für Rückfragen bei den Gerichten kein Raum sein kann. Was in solchen Konstellationen nicht verlangt werden kann, sollte in Verfahren, in denen für Rückfragen Zeit bliebe, nicht verlangt werden dürfen. Es ist auch fraglich, ob eine solche Pflicht nicht zu einer erheblichen Belastung der Gerichte führen muss.

BSG, Beschluss vom 5.10.2023 – B 5 R 61/23 B BeckRS 2023, 29951