Interview
Kampf ums letzte Wort in Europa
Interview
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Selten war eine Gerichtsentscheidung so umstritten wie das PSPP-Urteil des BVerfG vom Mai 2020. Nun hat sich die EU-Kommission in die Auseinandersetzung zwischen Karlsruhe und Luxemburg um das letzte Wort eingeschaltet und ein Vertragsverletzungsverfahren ­gegen Deutschland eingeleitet. Der Hamburger Europa- und Verfassungsrechtler Prof. Dr. Markus Kotzur hat dieses Verfahren für uns näher beleuchtet.

1. Jul 2021

NJW: Die EU-Kommission hat jüngst gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen des PSPP-Urteils eingeleitet. Wie lautet der Vorwurf?

Kotzur: Den Vorrang des Unionsrechts nicht zu beachten. Mit dem genannten Urteil hat das BVerfG dem EuGH erstmals ausdrücklich die Gefolgschaft verweigert: Dessen Entscheidung in der Rechtssache Weiss vom Dezember 2018 überschreite die der Union eingeräumten Kompetenzen und sei daher für die Bundesrepublik Deutschland nicht bindend. Das geht einen entscheidenden Schritt über die bisherigen – mitunter durchaus fruchtbaren – Kompetenzstreitigkeiten zwischen Karlsruhe und Luxemburg hinaus. Zwar akzeptiert das BVerfG prinzipiell den Vorrang des Unionsrechts und damit die Verbindlichkeit der EuGH-Urteile, behält sich aber für „ausbrechende“, von der Integrationsoffenheit des GG vermeintlich nicht mehr gedeckte Akte selbstbewusst das letzte Wort vor. Aus verfassungsrichterlicher Sicht mag das lauter sein, brandgefährlich bleibt es allemal, denn für eine Rechtsgemeinschaft wie die EU ist die gleiche und effektive Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten entscheidende Gelingensbedingung.

NJW: Ist dieser Verstoß wirklich so fundamental?

Kotzur: Nun, es geht ums Grundlegende, nicht um eine anekdotische Plänkelei am Rande. Zwar stellt sich nicht zum ersten Mal ein mitgliedstaatliches Höchstgericht gegen die Bindungswirkung von EuGH-Urteilen – so schon geschehen im tschechischen Fall Landtovà oder im dänischen Fall Ajos –, aber Karlsruhe wirft den Fehdehandschuh in integrationspolitisch aufgeheizten (Krisen-)Zeiten, tut das mit der Währungspolitik auf einem Feld, das kompetenziell allein Sache der EU ist, kommt en passant noch mit der Unabhängigkeit der EZB ins Gehege und ist auch in der Wortwahl nicht gerade zimperlich: Die Auslegung der Verträge durch den EuGH sei „nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich“ (Leitsatz 2).

NJW: Nun sind Vertragsverletzungsverfahren wegen einer Gerichtsentscheidung nicht an der Tagesordnung. Gab es so etwas schon mal in der Vergangenheit?

Kotzur: Die Kommission ist da sehr vorsichtig, ging aber etwa im Jahre 2014 gegen eine Entscheidung des obersten französischen Verwaltungsgerichts vor.

NJW: Weshalb wertet die Kommission das Urteil als „gefährlichen Präzedenzfall“?

Kotzur: Sie fürchtet, salopp formuliert, Nachahmungstäter gerade dort, wo das Rechtsstaatsprinzip schon geschwächt ist. Gemeint sind Polen und Ungarn, gegen die aktuell Verfahren wegen Rechtsstaatsverstößen vor dem EuGH laufen. Sollte deren Justiz Verdikte aus Luxemburg ignorieren, weil sie (angeblich) gegen nationales Verfassungsrecht verstießen, und sich dabei auf das europaweit höchstes Ansehen genießende BVerfG berufen, wäre das eine ebenso unbeabsichtigte wie prekäre Steilvorlage aus Karlsruhe.

NJW: Sind diese Befürchtungen berechtigt?

Kotzur: Rechtsstaatsvergessenheit kann man dem PSPP-Urteil, das mehr, nicht weniger Rechtskontrolle verlangt, nun wahrlich nicht vorwerfen. Und gewiss hat Ulrich Haltern Recht, wenn er in der SZ vom 14.6. (S. 14) darauf hinweist, dass weder Polen noch Ungarn Karlsruhe als Stichwortgeber brauchen. Umgekehrt wäre es ein fatales Signal, wenn die Kommission die „üblichen Verdächtigen“ mehr und mehr auf dem Kieker hätte, während sie bei Unionsrechtsverstößen europäischer Schwergewichte der ersten Stunde wie Deutschland ein wohlwollendes Auge zudrückte.

NJW: Wie soll Deutschland im konkreten Fall die Übereinstimmung mit EU-Recht herstellen? Schließlich haben der Grundsatz der Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz Verfassungsrang.

Kotzur: Ein Wert übrigens, den sich die Union mit ihrem Rechtsstaatsbekenntnis in Art. 2 EUV selbst auf die Fahnen schreibt. Schon deshalb kann es nicht Ansinnen der Kommission sein, den Respekt vor der richterlichen Unabhängigkeit gegen den Vorrang des Europarechts auszuspielen. Das Diktum des BVerfG wird und muss unangetastet bleiben. Dass der EuGH – mit erwartbarem Ergebnis – in eigener Sache judizieren muss, macht die Sache auch nicht einfacher. Und doch gäbe ein Verfahren dem Luxemburger Gericht nicht nur die Chance, seinen Standpunkt in der Rechtssache Weiss differenzierend zu erläutern, sondern auch in Sachen „ultra vires“ mit den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten den Gesprächsfaden aufzugreifen.

NJW: Ende April hat der Zweite Senat Vollstreckungsanträge zum PSPP-Urteil abgelehnt. Hat das Gericht damit nicht den Vorrang des EU-Rechts vor dem nationalen Recht eingeräumt?

Kotzur: Manche haben die vorläufige Ablehnung der Vollstreckungsanträge als Friedensangebot gewertet. Die Kommission hätte sich offensichtlich ein eindeutigeres Bekenntnis zum Vorrang des Unionsrechts gewünscht. Die zeitliche Koinzidenz ist gewiss nicht ganz zufällig.

NJW: Hätte sich das Vertragsverletzungsverfahren erledigt, wenn das BVerfG sich in nächster Zeit zum Vorrang des EU-Rechts bekennt?

Kotzur: Wohl auch dann nicht, wenn Karlsruhe dies in Abkehr seiner jahrzehntelang verfestigten Rechtsprechung ohne jedes Wenn und Aber täte. Der EuGH begreift das Vertragsverletzungsverfahren als objektives Rechtsschutzverfahren. Wenn es grundsätzliche Rechtsfragen zu klären gilt, hat er bislang das Verfahren weitergeführt, auch wenn sich der Rechtsverstoß bereits erledigt hatte.

NJW: Wie geht es nun weiter?

Kotzur: Das richtet sich nach Art. 258 AEUV. Deutschland hat zwei Monate Zeit, um auf das erste Mahnschreiben aus Brüssel zu reagieren. Hält die Kommission nach dieser Antwort das Problem weiterhin für nicht behoben, kann sie eine formelle Aufforderung – eine sogenannte mit Gründen versehene Stellungnahme, der Sache nach eine zweite Mahnung – an Deutschland richten. Die Bundesrepublik hat wiederum zwei Monate Zeit für ihre Antwort. Genügt auch diese der Kommission nicht, hat sie die Möglichkeit – wohlgemerkt: nicht die Pflicht! – den EuGH anzurufen. Kommt die Bundesrepublik dessen Entscheidung – sie ergeht in Form eines Feststellungsurteils – nicht nach, droht schließlich ein Bußgeld.

NJW: Wenn die Kommission den EuGH anruft, kann der Gerichtshof in dem Fall überhaupt neutral bzw. objektiv entscheiden?

Kotzur: Wie schon gesagt: Die Kommission kann den Gerichtshof anrufen, muss es aber nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie es tut, ist freilich groß. Der EuGH würde dann, wie schon angedeutet, zum Richter in eigener Sache – was aber in der Logik vom Vorrang des Unionsrechts begründet liegt.

NJW: Kurz nach Verkündung des PSPP-Urteils wurde der Ruf nach einem europäischen Kompetenzgerichtshof laut, der Auseinandersetzungen zwischen nationalen (Verfassungs-)Gerichten und dem EuGH befrieden könnte. Was halten Sie von diesen Vorschlag auch im Hinblick auf das PSPP-Vertragsverletzungsverfahren?

Kotzur: Auch wenn eine neue Instanz geschaffen wird, bleibt der Streit ums letzte Wort, er verlagert sich nur. Nach der Argumentationslogik des BVerfG dürfte es den Kern der deutschen Verfassungsidentität auch dann nicht preisgeben, wenn nicht der EuGH, sondern ein Kompetenzgerichtshof judiziert. Immerhin aber wäre das Problem der Entscheidung in eigener Sache aus der Welt.

Prof. Dr. Markus Kotzur, LL.M., studierte Jura in Freiburg/Breisgau, Bayreuth und in Durham (North Carolina). Nach dem Zweiten Staatsexamen war er als Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Häberle in Bayreuth tätig, der auch seine Promotion und seine Habilitation betreute. 2005 nahm Kotzur einen Ruf an die Universität Leipzig auf einen Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht an. Seit 2012 ist er Professor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Hamburg, stellvertretender Direktor des Instituts für Internationale Angelegenheiten sowie Präsident des Europa-Kolleg, Hamburg.

Interview: Monika Spiekermann.