NJW-Editorial
K(r)ampf mit der Anonymisierung

Gerichtsentscheidungen – auch der Instanzgerichte – sind ausnahmslos zu veröffentlichen. Das ist verfassungsrechtlich geboten und unabdingbar für einen deutschen Innovationsstandort KI und Legal Tech (vgl. Heese, FS Roth, 2021, S. 283, 293 ff., 337 f.). Die Politik hat das erkannt. „Gerichtsentscheidungen“, so der Koalitionsvertrag, „sollen grundsätzlich in einer Datenbank öffentlich und maschinenlesbar verfügbar sein“. Allerdings soll die Veröffentlichung „in anonymisierter Form“ geschehen. Das ist in dieser Pauschalität nicht richtig und stellt die Justiz vor eine praktische Herausforderung.

5. Okt 2023

Soweit ein überwiegendes Informationsinteresse besteht, muss eine Anonymisierung von Rechts wegen unterbleiben – etwa die von beklagtem Unternehmen und Streitgegenstand in Massenschadenfällen, um Follow-on-Klagen zu erleichtern. Dass die Bezeichnung des AfD-Fraktionsvorsitzenden im Thüringer Landtag Höcke als „Faschisten“ auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage beruht (vgl. VG Meiningen AfP 2019, 555), interessiert im politischen Meinungsbildungsprozess. Zudem bleiben Parteien trotz ­namentlicher Anonymisierung häufig nicht anonym. Prominente aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft lassen sich oft aus dem Kontext individualisieren. Einen Anspruch auf „totale Anonymisierung“ lehnt die Rechtsprechung zu Recht ab.

In einem System umfassender Entscheidungsöffentlichkeit kann die Anonymisierung nicht mehr händisch erfolgen – im Hinblick auf die hohe Fehlerquote an sich eine gute Nachricht. Tools zur maschinellen selektiven Schwärzung personenbezogener Daten (zB nicht der Autor des zitierten MüKo) haben den Praxistest in der Landesjustiz aber bisher nicht bestanden. Mit „JANO“, einem Projekt von Baden-Württemberg und ­Hessen, wird aktuell ein neuer Anlauf genommen. Der einfachste Weg könnte in einer vorausschauenden Entscheidungsabfassung liegen: Der Richter versieht die wenigen zu anonymisierenden Daten gleich selbst mit einem Klammerzusatz, den die Anonymisierungssoftware aufgreift (vgl. Heese, FS Roth, S. 334 f.).

In den USA sind personenbezogene Daten übrigens grundsätzlicher Bestandteil der Gerichtsakten- und Urteilspublizität: „Identifying the parties to the proceeding is an important dimension of publicness. The people have a right to know who is using their courts“, vgl. 112 F.3d 869, 872 (7th Cir. 1997). Hierzulande wird Urteilsöffentlichkeit dagegen verbreitet als gewöhnlicher Anwendungsfall der DS-GVO gesehen. Dabei steht die Anonymisierung von Parteinamen durchaus quer zum Öffentlichkeitsgrundsatz, der die Nennung auf Sitzungstafeln und in der öffentlichen Sitzung selbstverständlich einschließt. Auch die Anonymisierung von Zivilurteilen könnte sich an den zur Öffentlichkeit der Verhandlung geltenden restriktiveren Einschränkungen (Art. 6 I 2 EMRK, §§ 170 ff. GVG) orientieren.

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Prof. Dr. Michael Heese, LL.M. (Yale), ist Lehrstuhlinhaber an der Universität Regensburg.