NJW: Derzeit läuft vor dem Staatsschutzsenat des OLG Naumburg der Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter auf die Synagoge von Halle. Was erwarten Sie von dem Prozess?
Steinke: Der Angeklagte hat sich bei seinen Taten ja selbst gefilmt. Er hat auch gleich zu Beginn des Prozesses alles gestanden. Das heißt, die Frage der Beweisbarkeit wird nicht sehr spannend. Interessant wird, inwieweit die Richter bereit sind, den Blick zu weiten für die ideologischen Hintergründe. Also auch für die – weit verbreitete – Verschwörungserzählung von einer angeblich von „jüdischen Interessen“ gesteuerten Migration nach Europa. Dann könnte das der Ort einer wertvollen gesellschaftlichen Auseinandersetzung werden.
NJW: Die Funktion des Strafprozesses ist die Klärung der Schuldfrage. Solche Erwartungen werden daher oft enttäuscht, zuletzt etwa im NSU-Prozess.
Steinke: Ja. Bei historischen Prozessen zu derart einschneidenden Vorgängen kommen auf die Richter aber noch andere Fragen zu als die rein juristischen, meine ich. Da geht es auch darum, den Opfern Würde zu geben – und Worte zu finden, die den Dimensionen der Sache gerecht werden. Das ist ein Anspruch, den die Justiz haben sollte, und bisher habe ich insofern eigentlich auch einen sehr positiven Eindruck von der Vorsitzenden Richterin.
NJW: Immerhin macht das OLG erstmals von der Möglichkeit Gebrauch, Tonaufnahmen des Prozesses zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken anzufertigen.
Steinke: Das ist hervorragend. Hoffentlich ein Vorbild für andere Gerichte.
NJW: Welche Bedeutung haben die NS-Prozesse wegen Verbrechen in Konzentrationslagern? Und wie bewerten Sie den Ausgang des Verfahrens vor dem LG Hamburg gegen den ehemaligen SS-Wachmann im Lager Stutthof?
Steinke: Ich würde das nicht überbewerten. Der Umgang des deutschen Rechtsstaats mit den NS-Gewaltverbrechen ist bis auf einzelne Ausnahmen eine Schande gewesen. Fast alle Täter sind unbehelligt davongekommen, übrigens auch fast alle der ehemaligen SS-Leute in Stutthof, die deutsche Justiz hat nach dem Krieg viel Energie darauf verwendet, wegzusehen und abzuwiegeln. Das ist den Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht entgangen. Das sollte man nicht vergessen, wenn man sich heute fragt, warum das Vertrauen der jüdischen Community in den deutschen Rechtsstaat so gering ist.
NJW: Sie haben für Ihr Buch eine Vielzahl von Strafurteilen analysiert. Daraus folgt der sehr grundsätzliche Vorwurf gegen die Justiz, bei antisemitisch motivierten Straftaten zu beschönigen. Können Sie das konkretisieren?
Steinke: Es zeigt sich immer wieder ein Widerwille, überhaupt von Judenhass zu sprechen. Ein Beispiel: Im Jahr 2014 gab es einen Brandanschlag auf die Synagoge in Wuppertal. Aber als die drei Täter vor Gericht standen, erklärte der Richter, das sei nicht antisemitisch gewesen, da die Täter vor allem ihrer Wut über Israels Vorgehen im Gazastreifen hätten Luft machen wollen. Die Strafen fielen minimal aus. Das ist eine Logik, für die sich die Jüdinnen und Juden in Wuppertal bedanken dürfen. Über Israels Vorgehen in Gaza kann man streiten. Sehr sogar. Über die Gründe, warum die Täter in Wuppertal sich dieses Ziel für ihre Gewalttat ausgesucht haben, kann man aber nicht ernsthaft streiten, meine ich: Sie wollten halt irgendwelche Juden treffen. Leider ist dieses verharmlosende Urteil kein Ausreißer gewesen, auch die nächste Instanz hat dieser Logik nicht widersprechen wollen. Das haben sich andere zum schlechten Vorbild genommen.
NJW: Nun gibt es auch Gerichte, die sich intensiv mit antisemitischen Tatmotiven auseinandergesetzt, diese glasklar bejaht und hohe Strafen ausgesprochen haben. Das BVerfG hat gerade eine Verurteilung wegen Volksverhetzung aufgrund einer Bezeichnung als „frecher Juden-Funktionär“ für verfassungsgemäß erklärt. Reden wir über Einzelfälle oder tatsächlich über ein strukturelles Problem?
Steinke: Das BVerfG ist nicht das Problem. Aber wir reden von dem strukturellen Problem, dass Fälle allzu oft erst gar nicht nach Karlsruhe kommen, weil Staatsanwaltschaften und Gerichte sie schon in den unteren Instanzen wegmoderieren. „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“: Das ist ein Satz, der in Berlin auf offener Straße skandiert wurde. Die Staatsanwaltschaft erklärte gleich, sie sehe darin keine Volksverhetzung. Es ist überhaupt nie versucht worden, die Frage einem Gericht vorzulegen.
NJW: Haben Sie eine Erklärung dafür?
Steinke: Antisemitismus geht oft mit hochtrabenden Begründungen einher. Das unterscheidet ihn vom plumpen Rassismus. Juden sind historisch für die verschiedensten Übel verantwortlich gemacht worden. Kapitalismus, Kommunismus. Heute wird ihnen vorgeworfen, dass es Muslimen in aller Welt schlecht gehe. Und gleichzeitig – wie im Fall des rechtsextremen Attentäters in Halle – auch das glatte Gegenteil, nämlich dass sie angeblich Europa „islamisieren“ würden. Es gibt in der Justiz manchmal eine Zurückhaltung, sich zu solchen Narrativen zu positionieren, weil das angeblich die politische Sphäre betreffe. Leider bedeutet dies, die Rechtfertigungsnarrative von handfesten Straftaten ernster zu nehmen, als sie es verdienen.
NJW: Bei der Strafzumessung werden bereits antisemitische Motive berücksichtigt. Jetzt sollen sie in § 46 II StGB explizit benannt werden. Ein wichtiges Signal?
Steinke: Das ist zwar nur ein Symbol, aber durchaus nicht wertlos. Wenn das Wort Antisemitismus künftig explizit im Gesetz steht, dann wird es vielleicht auch öfter explizit in Urteilen stehen und auch öfter im Gerichtssaal gezielt diskutiert werden. Das ist eine Ermutigung an die Justiz.
NJW: Welche strafrechtlichen Änderungen halten Sie darüber hinaus für notwendig?
Steinke: Es ist insgesamt interessant, dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit recht wenig ins Gewicht fällt nach unserem Strafrecht. Vergleichen Sie das mit einem anderen Motiv für Gewalt – der Habgier. Dort gibt es harte Regeln. Die Strafrahmen springen sofort in die Höhe. Im Gegensatz dazu kommt die Strafzumessungsregel des § 46 II StGB für rassistische oder antisemitische Gewaltmotive doch sehr sanft daher. Die Richter sollen sie lediglich „in Betracht ziehen“. Dabei bedeutet ein diskriminierendes Motiv immer eine zusätzliche Erniedrigung des Opfers, das lediglich als Exemplar einer Gruppe – Jude, Schwuler, Muslim und so weiter – ausgewählt worden ist. Und da ist auch noch der Aspekt, dass nicht nur das Individuum, sondern auch die gesamte Gruppe dahinter eingeschüchtert werden soll.
NJW: Wie sieht es bei der Sicherheit von Juden aus? Sie haben für Ihr Buch auch polizeirechtliche Fragen mit Praktikern diskutiert. Mit welchem Ergebnis?
Steinke: Wenn es um den Schutz jüdischer Einrichtungen geht, herrscht in allen Bundesländern eine Praxis, die mich hat stutzen lassen. Einerseits stellt die Polizei präzise Diagnosen. Sie kommt in jüdische Gemeinden und erstattet Gefährdungsanalysen. Das sind meist recht dramatische Warnungen, und darin schreibt die Polizei auch, welche konkreten Schutzmaßnahmen sie empfiehlt. Aber dann geht sie wieder. Die Gemeinde soll sich selbst kümmern. Als sei diese Bedrohtheit ihr Privatproblem. Anträge auf Zuschüsse für Sicherheitsfenster oder Ähnliches sind oft ein steiniger Weg, es dauert Monate oder auch Jahre, und in dieser Zeit lässt der Staat diese Gefahr sehenden Auges offen. Gerade die kleinen, vulnerabelsten jüdischen Gemeinden, die – wie in Halle – oft von Ehrenamtlern geführt werden, bleiben oft allein. Ich frage mich, ob man den Schutz von Leib und Leben ernsthaft so organisieren will. •
Dr. Ronen Steinke studierte Rechtswissenschaften an der Bucerius Law School und in Tokio. 2011 wurde er mit einer völkerstrafrechtlichen Arbeit über die politische Funktion von Kriegsverbrechertribunalen seit 1945 promoviert. Anschließend wurde er Redakteur der Süddeutschen Zeitung zunächst im Ressort Außenpolitik und seit 2017 als innenpolitischer Korrespondent in Berlin, wo er über Rechtspolitik, Sicherheitsbehörden und Extremismus berichtet. Steinke ist Autor einer Biografie über den Generalstaatsanwalt in Hessen und Ankläger der Frankfurter Auschwitz-Prozesse Fritz Bauer, die preisgekrönt verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Gerade ist im Berlin Verlag sein neuestes Buch „Terror gegen Juden“ erschienen.