Interview
Justizunrecht auf der Spur
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Ein Fehlurteil mit der Folge einer langjährigen oder lebenslangen Freiheitsstrafe ist für den Betroffenen und das Vertrauen in die Justiz eine Katastrophe. Gleichwohl wurde das Phänomen Justizunrecht in Deutschland bislang kaum untersucht. Ein Studierendenprojekt zur Wiederaufnahme im Strafverfahren will das jetzt ändern. Wir haben uns darüber mit Prof. Dr. Carsten Momsen, einem der Initiatoren des Projekts, unterhalten.

12. Jan 2022

NJW: Herr Professor Momsen, Sie und Ihre Kollegen wollen zusammen mit einer Gruppe von Strafverteidigern und Studierenden Fehlurteile deutscher Gerichte untersuchen. Gab es dafür einen konkreten Anlass?

Momsen: Fehlurteile oder solche, die wir dafür halten, erleben wir in der Praxis immer wieder. Es war aber jetzt kein konkretes, vielleicht gar besonders drastisches Fehlurteil, weshalb wir das Projekt ins Leben gerufen haben. Mein Mistreiter Rechtsanwalt Prof. Dr. Stefan König und ich haben – zunächst unabhängig voneinander – vielmehr nach Möglichkeiten gesucht, eine Fehlurteilskultur in Deutschland zu etablieren. Dafür haben wir 2018 und 2019 Gespräche mit den Verantwortlichen des „Innocence Project“ in New York geführt, das als die Keimzelle der Fehlurteilsbewegung in den Vereinigten Staaten bezeichnet werden kann und viele spektakuläre Fehlurteile aufgedeckt hat.

NJW: Wie sollen Studierende ohne jede praktische Erfahrung in der Strafverteidigung Sie bei dem Forschungsprojekt unterstützen?

Momsen: Momentan handelt sich nicht in erster Linie um ein Forschungsprojekt, sondern um praktische Arbeit, um Betroffenen zu helfen. Darin beziehen wir Studierende über Law Clinics mit ein. An der FU Berlin haben wir 2020 mit meiner Kollegin Prof. Dr. Kirstin Drenkhahn eine Post-Conviction Law Clinic gegründet. Dort unterrichten wir, ebenso wie Stefan König an der Universität Göttingen, Studierende unter anderem über die Ursachen von Fehlurteilen und das Recht der Wiederaufnahme. Im Wiederaufnahme-Teil arbeiten sie mit Verteidigern an einzelnen Anträgen, die bei uns im Projekt „Fehlurteil und Wiederaufnahme“ eingehen.

NJW: Wie wird das Projekt angenommen?

Momsen: Nachdem im ersten (Pilot-)Jahrgang in Berlin zehn Studierende teilgenommen haben, sind es jetzt schon über 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer; hinzu kommen einige aus dem letzten Jahr, die weiter im Projekt mitarbeiten. In Göttingen ist die Resonanz auf die dort vom Kollegen König gegründete Law Clinic allerdings noch etwas bescheiden. Eine entsprechende Law Clinic gibt es mittlerweile auch an der Universität Augsburg, die sich mit insgesamt weiteren 30 bis 40 Studierenden beteiligt. Und die Universitäten Greifswald und Frankfurt/Oder sind dabei, entsprechende Projekte aufzubauen. Zudem kooperieren wir mit der Universität Bielefeld und der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster.

NJW: Wo sehen Sie die wesentlichen Ursachen dafür, dass Fehlurteile rechtskräftig werden?

Momsen: Schwere Vorwürfe werden in Deutschland vor den Landgerichten angeklagt. Hier existiert nur eine Rechtsmittelinstanz, die Revision, die auf eine reine Rechtsprüfung beschränkt ist. Die Korrektur eines Fehlurteils ist dadurch nur höchst eingeschränkt möglich. Die echte Fehlurteilsprüfung ist lediglich im Wege der Wiederaufnahme möglich – ein sehr aufwendiges Verfahren, das in der Praxis der Gerichte auf großen Widerstand stößt. Vielen Verurteilten fehlt es schlicht an finanziellen Mitteln für die insoweit erforderliche Verteidigung.

NJW: Ließe sich dieses Risiko zumindest reduzieren, indem man die Revisionsinstanz als weitere Tatsacheninstanz ausgestaltet?

Momsen: Das wäre sicher im Hinblick auf die Vermeidung und Aufdeckung von Fehlurteilen hilfreich, angesichts des damit verbundenen Aufwands aber kaum durchsetzbar. Allerdings wäre schon viel gewonnen, wenn die aktuellen Bemühungen um die Reform des Hauptverhandlungsprotokolls hin zu einer inhaltlichen Dokumentation Erfolg hätten. Das würde die Durchführung von Wiederaufnahmeverfahren erheblich erleichtern, denn es ließe sich genau rekonstruieren, welche Tatsachen das Gericht bei seiner Entscheidung berücksichtigt hat.

NJW: Sie erwähnten zu Beginn unseres Gesprächs Urteile, die für Fehlentscheidungen gehalten würden. Inwiefern trägt der Umstand, dass Revisionen mit einem Satz abgewiesen werden können, dazu bei, dass Verurteilte und deren Verteidiger das Urteil für falsch halten?

Momsen: Die meisten Revisionen werden durch Beschluss als „offensichtlich unbegründet“ oder unzulässig verworfen. „Offensichtlich“ heißt dabei praktisch nicht mehr, als dass sich die Senatsmitglieder – und sei es nach stundenlangen Beratungen – schlussendlich einig waren. Die Verurteilten gewinnen aber in der Tat so das Gefühl, das Gericht habe sich nur fünf Minuten mit ihrem Anliegen befasst. Das verhindert die Akzeptanz der Urteile. Natürlich gibt es auch exzellent und aufschlussreich begründete Revisionsurteile – ebenso wie schlecht begründete Revisionen, die bereits auf den ersten Blick nicht zum Erfolg führen können.

NJW: Es heißt, manche Gerichte ordneten in Fällen notwendiger Verteidigung einen ihnen genehmen Pflichtverteidiger bei. Sehen Sie darin eine relevante Gefahr, dass es zu Fehlurteilen kommt?

Momsen: Zunächst möchte ich der Annahme entgegentreten, Pflichtverteidiger seien grundsätzlich weniger gut als Wahlverteidigerinnen. Ebenso wenig kann ich bestätigen, dass Gerichte prinzipiell lieber eine „Geständnisbegleitung“ wünschen als eine effektive Verteidigung. Es kommt aber auch zu den von Ihnen beschriebenen Entscheidungen. Bei schlechter Verteidigung steigt natürlich die Gefahr, dass es zu Fehlurteilen kommt. Denn die Angeklagten sind allein nicht in der Lage, ihre Rechte wahrzunehmen und die Berücksichtigung von Entlastungsbeweisen durchzusetzen.

NJW: Werden Sie untersuchen, ob ein Zusammenhang zwischen Fehlurteilen und Pflichtverteidigung besteht?

Momsen: Wir untersuchen in allen Richtungen nach möglichen Ursachen für Fehlurteile. Dazu kann auch eine schlechte Verteidigung gehören, auch in einem inquisitorisch ausgestalteten Strafprozess, wie wir ihn in Deutschland haben. Das umso mehr, als das Verfahren, etwa durch die Verständigung und die Widerspruchslösung, vermehrt adversatorische Elemente enthält. Allerdings lässt sich das Phänomen nicht auf die Pflichtverteidigung reduzieren.

NJW: Werden Sie auf der Grundlage der Ergebnisse Ihrer Untersuchung Vorschläge zur Vermeidung von Fehlurteilen entwickeln?

Momsen: Natürlich denken wir auch über Reformvorschläge nach. Wir sind aber noch ganz am Anfang und müssen auch aus unseren eigenen Fehlern lernen: Auch wir Hochschullehrer und -lehrerinnen müssen selbstkritisch einräumen, dass die universitäre Ausbildung in aller Regel einen Bogen um Ursachen und Vermeidung von Fehlurteilen gemacht hat. Ich bin seit bald 20 Jahren Professor, aber erst seit zwei Jahren beginnen wir, die Ausbildung mit den Law Clinics an den beteiligten Hochschulen auf Fragen zu Fehlurteilen zu erweitern. Ich gehe aber davon aus, dass wir, wenn sich das Projekt etabliert, über eine Datenbasis verfügen werden, auf deren Grundlage wir Reformvorschläge zur Diskussion stellen können. Dabei hilft uns die breite Resonanz, auf die das Projekt unter den sehr engagierten Studierenden, aber auch in der Anwaltschaft trifft.

NJW: Es heißt, die Fehlerkultur in der deutschen Justiz sei allenfalls schwach ausgeprägt. Woran liegt das?

Momsen: Dies hat sicher viel mit einem Strafverfahren zu tun, in dem die Autorität der Staatsanwaltschaften und vor allem der Gerichte deutlich überwiegt. Anders als etwa im amerikanischen Strafprozess ist die Verteidigung keine gleichwertige Partei. Auch heute noch hat sie kaum formale Möglichkeiten, im Ermittlungsverfahren, das für die Beweissammlung zentral wichtig ist, die Erhebung von Entlastungsbeweisen zu erzwingen. Unserer Einschätzung nach ist in der Justiz die Besorgnis verbreitet, ihre Autorität könne leiden, wenn ein Fehlurteil aufgedeckt wird. Dabei ist doch das Gegenteil der Fall: Nur wer bereit ist, Fehler einzuräumen, wird wirklich respektiert. Und das muss schon in der Ausbildung vermittelt werden.

Prof. Dr. Carsten Momsen leitet seit 2015 den Arbeitsbereich Strafrecht, Strafverfahrensrecht, Wirtschafts- und Umweltstrafrecht am Fachbereich Rechtswissenschaften der FU Berlin. Nebenberuflich ist er als Strafverteidiger tätig. Weitergehende Informationen zu dem Projekt finden sich unter wiederaufnahme.com.

Interview: Monika Spiekermann.