Interview
Justiz baut Barrieren ab
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Was macht die Justiz, um Sehbehinderten und Blinden den Zugang zum Recht zu ermöglichen? In Niedersachsen eine ganze Menge, meint Stefanie Otte, Präsidentin des OLG Celle, im Gespräch mit der NJW. Gleichwohl bleibe in Sachen Barrierefreiheit noch Einiges zu tun, auch in ihrem Haus.

31. Jul 2020

NJW: Niedersachsens Justiz bietet zusammen mit Ihrem OLG einen besonderen Service für Blinde und Sehbehinderte an. Können Sie uns den kurz erläutern?

Otte: Blinde und sehbehinderte Menschen haben einen in § 191a GVG verankerten Anspruch, dass Schriftsätze und andere Dokumente eines gerichtlichen Verfahrens, an dem sie beteiligt sind, in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich sind. Es ist also im eigentlichen Sinne kein „Service“ für blinde und sehbehinderte Menschen, den die beim OLG Celle seit März eingerichtete ZMV-Stelle anbietet, sondern eher eine rechtlich gebotene Selbstverständlichkeit. Blinden oder Sehbehinderten soll so der Zugang zu Verfahrensakten erleichtert werden, und sie sollen in die Lage versetzt werden, eigene Rechte im Verfahren wahrzunehmen.

NJW: Wie weit reicht dieser Anspruch?

Otte: Blinde und sehbehinderte Menschen können verlangen, dass ihnen Inhalte aus den Verfahrensakten in Großdruck oder in Brailleschrift, als barrierefreie PDFDateien oder als Audio-Dateien übermittelt werden. Die auf der Grundlage von § 191a II GVG ergangene Zugänglichmachungsverordnung (ZMV) – nach der die hiesige ZMV-Stelle benannt ist – erstreckt den Anspruch auf das staatsanwaltliche Ermittlungs- und Vollstreckungsverfahren sowie das behördliche Bußgeldverfahren. Da nicht alle Gerichte und Staatsanwaltschaften über die dafür erforderliche technische Ausstattung verfügen (können), wurde die ZMV-Stelle beim OLG Celle eingerichtet. Sie setzt die Zugänglichmachung für sämtliche Gerichte aller Gerichtsbarkeiten sowie die Staatsanwaltschaften in Niedersachsen technisch um. Die dafür anfallenden Kosten trägt – unabhängig vom Ausgang des Verfahrens – die Staatskasse.

NJW: Und wie wird der Anspruch geltend gemacht?

Otte: Damit die ZMV-Stelle tätig werden kann, sollten blinde bzw. sehbehinderte Menschen das zuständige Gericht bzw. die Staatsanwaltschaft nach § 5 ZMV über ihre Blindheit oder Sehbehinderung informieren und in einem formlosen Antrag mitteilen, in welcher Form ihnen die Dokumente zugänglich gemacht werden können. Das Verlangen auf Zugänglichmachung kann in jedem Abschnitt des Verfahrens geltend gemacht werden. Es ist im weiteren Verfahren von Amts wegen zu berücksichtigen. Die Entscheidung darüber, ob im Einzelfall von einer unmittelbaren Zugänglichmachung des Akteninhalts für blinde und sehbehinderte Menschen abzusehen ist, obliegt den zur Entscheidung berufenen Spruchkörpern.

NJW: Besteht diese Möglichkeit nur für Verfahrensbeteiligte oder auch für interessierte Dritte?

Otte: Der Anspruch auf Zugänglichmachung von Akteninhalten besteht grundsätzlich nur für blinde oder sehbehinderte Verfahrensbeteiligte, denen materielle oder prozessuale Rechte im Verfahren zustehen. Das können neben Parteien, Streithelfern, Beteiligten oder Beschuldigten auch Zeuginnen und Zeugen, Sachverständige sowie Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sein. Soweit die oder der Verfahrensbevollmächtigte blind oder sehbehindert ist, steht ihr bzw. ihm der gleiche Anspruch auf Zugänglichmachung wie etwa einer blinden oder sehbehinderten Partei zu. Für interessierte Dritte besteht dieser Anspruch nicht. Das kann dann anders sein, wenn Dritte blind oder sehbehindert sind und ihnen ein Recht auf Akteneinsicht zB nach § 299 ZPO zusteht. In diesem Fall kann die Akteneinsicht gegebenenfalls barrierefrei zu gewähren sein.

NJW: Wie aufwändig ist etwa die blindengerechte Aufbereitung von Dokumenten aus der Gerichtsakte?

Otte: Der Aufwand hängt entscheidend davon ab, welchen Umfang der zugänglich zu machende Akteninhalt hat und in welcher Weise – schriftlich, elektronisch, akustisch – er aufzubereiten ist. Zunächst muss jedes Dokument auf die jeweiligen Anforderungen der Barrierefreiheit geprüft und danach der gewählten Aufbereitungsart entsprechend angepasst werden. Solche Anpassungen der Original-Dokumente für die Zugänglichmachung können beispielsweise wegen des Inhalts von Kopf- und Fußzeilen erforderlich sein oder aufgrund der Gestaltung eines Textes unter Verwendung von Aufzählungszeichen. Besonders aufwändig sind die Formulierung von Alternativtexten für Grafiken sowie das Umwandeln von Tabellen und Diagrammen in Fließtexte. Hier ist allerhöchste Sorgfalt geboten, damit die aufbereiteten Dokumente neutral und frei von Interpretationen bleiben.

NJW: Ein solcher Aufwand hat doch bestimmt Auswirkungen auf die Verfahrensdauer, oder?

Otte: Auswirkungen auf die Verfahrensdauer wird die Zugänglichmachung in aller Regel nicht haben. Die Bereitstellung barrierefreier Dokumente erfolgt nur zusätzlich zur Übersendung bzw. Zustellung nach den jeweiligen Verfahrensordnungen. Es werden dadurch keine neuen Fristen in Gang gesetzt.

NJW: Gilt dieser Anspruch für die gesamte Akte oder nur für einzelne Dokumente? Und wie sieht es mit weiterführender Rechtsprechung bzw. Literatur aus, die ein sehbehinderter Verfahrensbeteiligter zur Wahrnehmung seiner Rechte benötigt?

Otte: Der Anspruch erstreckt sich gemäß § 2 I ZMV auf alle Dokumente, die einer berechtigten Person zuzustellen oder formlos bekannt zu geben sind. Neben gerichtlichen Entscheidungen und Verfügungen sind dies auch solche, die von anderen Personen schriftlich oder elektronisch zu den Akten gereicht wurden, etwa gegnerische Schriftsätze oder Sachverständigengutachten. Ausdrücklich ausgenommen sind im Dokument unmittelbar enthaltene oder als Anlage beigefügte Zeichnungen und andere Darstellungen, also etwa Fotos, die nicht in Schriftzeichen wiedergegeben werden können, sowie Beiakten, die von anderen Behörden vorgelegt wurden. Weiterführende Literatur oder Rechtsprechung sind, da diese in der Regel nicht Aktenbestandteil sind, sondern in Schriftsätzen nur zitiert werden, von dem Anspruch nicht umfasst.

NJW: Was unternimmt die Justiz, um blinden oder stark sehbehinderten Richtern die gleichberechtigte Teilhabe am Berufsleben zu gewährleisten?

Otte: Der Arbeitsplatz blinder oder sehbehinderter Richterinnen und Richter wird in enger Abstimmung mit ihnen und dem Integrationsamt nach den individuellen Erfordernissen eingerichtet. Für die notwendige technische Ausstattung steht beim Zentralen IT-Betrieb Niedersachsen ein versierter Ansprechpartner zur Verfügung, der die von den blinden oder sehbehinderten Kolleginnen und Kollegen priorisierte Hard- und Software zusammenstellt und einrichtet. Bei Bedarf werden sie von einer ihnen zugewiesenen Assistenzkraft unterstützt, in deren Auswahl sie einbezogen werden.

NJW: Wann wird Ihre Gerichts-Homepage spezifische Inhalte in verschiedenen Sprachvarianten, namentlich in leichter und in Gebärdensprache, anbieten?

Otte: Es ist mir ein großes Anliegen, Menschen mit Beeinträchtigungen den ungehinderten Zugang zur Justiz zu ermöglichen. Wir haben deshalb in den zurückliegenden Monaten daran gearbeitet, unseren Internetauftritt soweit wie möglich barrierefrei zu gestalten. Zahlreiche Dokumente, die bislang nicht barrierefrei zum Download zur Verfügung standen, sind bereits aufbereitet und umgewandelt worden. Ziel ist es, schnellstmöglich die Barrierefreiheit unserer Homepage sowie der Internetauftritte der Gerichte unseres Bezirks herzustellen.

NJW: Was bieten Sie bereits?

Otte: Auf unserer Homepage gibt es eine eigene Rubrik mit verschiedenen Hinweisen zu unterschiedlichen Themen in leichter Sprache. Interessierte Besucherinnen und Besucher werden direkt auf das Landesjustizportal des Niedersächsischen Justizministeriums weitergeleitet. Dort sind zahlreiche Erläuterungen sowie verschiedene Broschüren und Ausfüllhilfen, zum Beispiel die Erklärung zu Prozesskosten- und Beratungshilfe in leichter Sprache, zu finden. Ebenso Anleitungen zum Ausfüllen der entsprechenden Formulare, die man sich auch vorlesen lassen kann. Bis zur vollständigen Barrierefreiheit ist es noch ein weiter Weg; aber ich bin entschlossen, diesen Weg weiter zu gehen. •

Interview: Dr. Monika Spiekermann.