Interview
Investition in Vertrauen
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Die Justiz hat ein Nachwuchsproblem. Eine Pensionierungswelle und sinkende Absolventenzahlen werden die Lage noch verschärfen. Die Bundesländer reagieren mit unterschiedlichen Maßnahmen. Mit Erfolg? Fragen an die Präsidentin des LG Potsdam Ramona Pisal.

25. Mrz 2021

NJW: Über Nachwuchssorgen der Justiz diskutieren wir schon länger. Aber das Problem scheint sich zu verschärfen. Wie ernst ist die Lage?

Pisal: Die Lage ist ziemlich ernst, und zwar in erster Linie darum, weil wir schon so lange nur darüber diskutiert und nicht frühzeitig und entschlossen gegengesteuert haben. Darüber ist viel und wertvolle Zeit verstrichen. Einstellungsoptionen laufen wegen mangelnder Nachfrage der jungen Juristinnen und Juristen leer, Planstellen für Richterinnen und Richter können nicht nachbesetzt werden, weil die jungen Kolleginnen und Kollegen noch in der Probezeit und im Verhältnis zu den Pensionierungen jedenfalls auch zu wenige für einen nahtlosen Übergang sind. Das alles führt zu Reibungsverlusten, die letztlich auf die Verfahrenslaufzeiten durchschlagen.

NJW: Gibt es Regionen oder Gerichtsbarkeiten, in denen die Personalsituation besonders angespannt ist?

Pisal: Außerhalb der städtisch geprägten Regionen ist es im Vergleich deutlich schwieriger, Nachwuchs für die Justiz zu gewinnen. Große Städte, attraktive kleinere Städte und solche mit Universitäten, die rechtswissenschaftliche Studiengänge anbieten, haben deutliche Standortvorteile. Von der bundeseinheitlichen Besoldung abzurücken war ein kardinaler Fehler, der sich zusätzlich regional auswirkt. Wer wollte es erfolgreichen jungen Juristinnen und Juristen verdenken, wenn es sie dort hinzieht, wo ihnen eine höhere Besoldung geboten wird? Die ordentliche Gerichtsbarkeit weist im Vergleich eine besonders angespannte Personalsituation auf, weil sie als die mit Abstand größte Gerichtsbarkeit schon in absoluten Zahlen die größten Lücken zeigt und im Unterschied zu anderen notleidenden Gerichtsbarkeiten vor der Initiative des Bundes nicht unterstützt worden ist, allen bekannten Bedarfen zum Trotz.

NJW: Sie haben die Besoldung schon angesprochen. Bei der Frage nach den Ursachen für die Nachwuchsprobleme hört man oft, die geringe Besoldung im Vergleich zu den Großkanzleigehältern sei schuld. Macht es sich die Justiz damit nicht ein bisschen zu leicht?

Pisal: Wir müssen uns gar nicht an den hohen Einstiegsgehältern der Großkanzleien messen, um klar feststellen zu können, dass die Besoldung für die Nachwuchsjuristinnen und -juristen in der Justiz, am liebsten noch mit Prädikat, in einigen Bundesländern nicht nur unattraktiv, sondern unangemessen niedrig ist. Das hat inzwischen mehrfach und sogar für Beförderungsämter das BVerfG unzweifelhaft festgestellt; das Abstandsgebot ist schon lange nicht mehr gewahrt. Aber nicht allein die Besoldung macht uns das Leben schwer. Es sind auch die oftmals sehr bürokratischen und langwierigen Auswahl- und Einstellungsprozesse im öffentlichen Dienst, die Unwägbarkeit des tatsächlichen Einsatzortes in der Probezeit gerade in den Flächenländern, die Unberechenbarkeit des Tätigkeitsschwerpunktes in der ordentlichen Gerichtsbarkeit mit ihrer grundsätzlichen Zweigleisigkeit Straf- und Zivilrecht sowie nicht zuletzt das Zögern vor einem Schritt, der auf eine Verbindung „auf Lebenszeit“ gerichtet ist.

NJW: Großkanzleien betreiben einen immensen Aufwand bei der Nachwuchsgewinnung. Da hinkt die Justiz hinterher. Zurückgehende Absolventenzahlen werden den Wettbewerb noch verschärfen. Ist die Justiz darauf vorbereitet?

Pisal: Das ist sie nicht, denn sie musste um ihren Nachwuchs nie werben. Für die vergleichsweise wenigen freiwerdenden Stellen kamen nur die bestqualifizierten Absolventinnen und Absolventen in Betracht, die sich zudem danach drängten. Ein Jahrzehnt beinahe gänzlich fehlender Neueinstellungen in der Justiz bei gleichzeitigem Umbruch in der Anwaltschaft zur hochspezialisierten Großkanzlei und einem auf Effizienz getrimmten Studium hat uns in eine ungewohnte Konkurrenzsituation gebracht, die erstmal erkannt und angenommen werden wollte. Wir wissen jetzt, dass wir nicht mehr automatisch die erste Wahl für die Assessorinnen und Assessoren sind, und versuchen schon früh, durch Praktika und gezielte Ansprache junge Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen, sie bestärkend und unterstützend durch die Probezeit zu begleiten.

NJW: In den ostdeutschen Ländern ist der Druck durch die anstehende Pensionierungswelle besonders groß. Was wird getan, um eine Entzerrung zu erreichen und einen geordneten Übergang zu gewährleisten?

Pisal: Seit gut drei Jahren steuert z.B. Brandenburg in der ordentlichen Gerichtsbarkeit um; zunächst eher verhalten, indem die „KW“-Stellen nicht mehr erbracht werden mussten, dann offensiver mit der Nachbesetzung freiwerdender Stellen und inzwischen mit ganzer Energie zur Gewinnung von Nachwuchskräften über den rechnerischen Personalbedarf hinaus. Auf dem Papier sind wir jetzt deutlich mehr als auskömmlich besetzt. Diese statistische Überausstattung bildet die große Anzahl der Richterinnen und Richter im Probedienst ab. Leider hat diese Entwicklung so spät eingesetzt, dass ein fließender Übergang und der notwendige Wissens- und Erfahrungstransfer nicht mehr gewährleistet sind. Es konnten mit Blick auf die Probezeit erst wenige junge Richterinnen und Richter auf Planstellen berufen werden. Daher haben wir ein Problem vor allem bei der Besetzung von Kammern. Die gute Idee eines auf Antrag herausgeschobenen Ruhestands ist erst spät aufgegriffen worden, so dass uns erfahrene Arbeitskraft für den Übergang entgangen ist. Inzwischen gibt es in Brandenburg eine individuelle Verlängerungsoption bis zum Höchstalter von 68 Jahren.

NJW: Das niedersächsische Justizministerium hat im vergangenen Sommer das Projekt „Justizassistenz“ gestartet, das qualifizierten Referendaren ermöglicht, begleitend zu ihrer Ausbildung Praxiserfahrungen in der Justiz zu sammeln. Was halten Sie davon?

Pisal: Das klingt nach einer geschickten Strategie, junge Leute mit bereits im ersten Staatsexamen nachgewiesener fachlicher Qualifikation im Referendariat für die Justiz zu gewinnen. Nicht erst seit der Reform der Ausbildung junger Juristinnen und Juristen zugunsten des Anwaltsberufs haben die Referendarinnen und Referendare deutlich mehr Bezug zur Anwaltschaft als zur Gerichtsbarkeit, weil es schon immer üblich war, neben dem Referendariat durch Mitarbeit in einer Kanzlei etwas nebenbei zu verdienen. Damit war gleichzeitig oft der Grundstein für eine konkrete berufliche Perspektive in der jeweiligen Kanzlei oder in Beziehung dazu gelegt. So gesehen spricht viel dafür, das Angebot einer frühen Zusammenarbeit im Rahmen der juristischen Assistenz ebenfalls zur Gewinnung unseres richterlichen Nachwuchses zu nutzen.

NJW: In der Corona-Pandemie zeigt sich, was ein sicherer Job wert ist. Kann die Justiz davon profitieren?

Pisal: Davon gehe ich aus, und wir sehen hier auch schon eine Veränderung; die jungen Leute nehmen die Justiz aber auch aufgrund unserer aktiven Werbung durchaus wieder vermehrt als attraktiven Arbeitgeber wahr. Neben einem sicheren Arbeitsplatz sind es aber vor allem die Unabhängigkeit, die Neutralität, die Selbstständigkeit, die Flexibilität des möglichen fachlichen Einsatzes und das hohe Vertrauen, das Richterinnen und Richtern grundsätzlich entgegengebracht wird, die die besondere Attraktivität des Berufs ausmachen. Damit sind wir im Grunde wettbewerbsfähig und müssen die Konkurrenz nicht scheuen, wenn wir auch die Rahmenbedingungen attraktiver gestalten.

NJW: Corona könnte sich auch negativ auf die Personalsituation auswirken. Hamburg fordert eine Verlängerung des Pakts für den Rechtsstaat, weil es ohne Bundeszuschüsse die Pandemiekosten nicht schultern könne, ohne Stellen in der Justiz abzubauen.

Pisal: Durch die in vielen Bundesländern jahrelang durchgesetzten rigiden Sparvorgaben fehlt uns jetzt qualifizierter Nachwuchs bei den Richterinnen und Richtern, aber auch auf den Geschäftsstellen. Der jahrelange Raubbau an den Ressourcen lässt sich nicht mit einem Ruck ungeschehen machen. Der vorhersehbare und vorhergesagte Schaden ist eingetreten, und er wird nachwirken, wenn das Ruder jetzt nur vorübergehend herumgerissen wird. Ein kontinuierlicher, berechenbarer Einstellungskorridor, der sich nicht daran orientiert, was die politischen Entscheidungsträger für die Justiz ausgeben wollen, sondern daran, was der Rechtsstaat bei realistischer Betrachtung einfach kostet, ist unabdingbar. Der Rechtsstaat lebt vom Vertrauen der Menschen. Eine auskömmliche Personalausstattung ist eine Investition in eine tragende Säule, die dieses kostbare Vertrauen stützt. Konkret zu „Corona“: Wenn die Menschen dieses Vertrauen verlieren, dann hamstern sie nicht mehr, dann plündern sie. •

Seit ziemlich genau einem Jahr ist Ramona Pisal Präsidentin des LG Potsdam. Zuvor stand sie an der Spitze des LG Cottbus und war dort die erste Gerichtspräsidentin in Brandenburg. Von 2011 bis 2017 war sie Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes.

Interview: Tobias Freudenberg.