NJW: Wenn wir es richtig sehen, ist es trotz ausgesetzter Wehrpflicht möglich, unter bestimmten Voraussetzungen Teile der Bevölkerung zum Militärdienst einzuziehen. Welche sind das?
Kielmansegg: Nach der geltenden Rechtslage lebt die Wehrpflicht mit Eintritt des Spannungs- oder Verteidigungsfalls automatisch wieder auf. Sowohl der Spannungs- als auch der Verteidigungsfall müssten vom Bundestag mit Zweidrittelmehrheit festgestellt werden. Der Verteidigungsfall liegt nur vor, wenn das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht. Der Spannungsfall ist im Grundgesetz nicht näher definiert. Er beschreibt gewissermaßen das Vorfeld des Verteidigungsfalls, wenn sich also eine Krise so zugespitzt hat, dass ein bewaffneter Angriff auf das Bundesgebiet wahrscheinlich ist.
NJW: Weshalb ist das trotz des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine noch nicht geschehen? Oder anders formuliert: Wie müsste sich die nationale Sicherheitslage entwickeln, damit eine solche Mobilisierung zulässig wäre?
Kielmansegg: Der Krieg in der Ukraine und das russische Verhalten müssten sich in einer Weise entwickeln, dass ein direkter Angriff auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland wahrscheinlich wird. Der Bundestag verfügt dabei über einen weiten Einschätzungsspielraum, aber eine Verwicklung in den Krieg unterhalb dieser Schwelle – etwa durch Waffenlieferungen an die Ukraine – reicht dafür nicht aus. Im Übrigen wäre eine Feststellung des Spannungsfalls natürlich auch politisch extrem heikel. Niemand will das Signal aussenden, wir wären wieder in einer Julikrise.
NJW: Welche rechtlichen Gründe sprechen für, welche gegen das Wiederaufleben der Wehrpflicht, und wie bewerten Sie diese?
Kielmansegg: Das automatische Wiederaufleben der Wehrpflicht ist gesetzlich klar geregelt und setzt das Vorliegen und die Feststellung zumindest des Spannungsfalls voraus. Eine solche Stufe haben die unspezifischen militärischen Drohungen und sonstigen, durchaus beunruhigenden russischen Aktivitäten gegen Deutschland bislang nicht erreicht.
NJW: Wie verhält sich unsere Verfassung zur Wehrpflicht bzw. woraus ergibt sich deren Zulässigkeit?
Kielmansegg: Das Grundgesetz sieht seit der Wiederbewaffnung in den 1950 er Jahren in Art. 12a GG ausdrücklich die Möglichkeit der Wehrpflicht vor. Das ist eine ganz eindeutige verfassungsrechtliche Weichenstellung. Hinter ihr steht die Auffassung, dass es zu den Grundpflichten der Mitglieder eines Gemeinwesens gehört, für die Sicherheit und das Überleben dieses Gemeinwesens und seiner Verfassungsordnung einzutreten. Das ist fraglos ein schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte des Einzelnen, aber gerade für ein demokratisch-republikanisches Gemeinwesen gut begründet.
NJW: Müsste das Grundgesetz für eine Wiedereinführung geändert werden, oder reicht dafür eine einfachgesetzliche Regelung?
Kielmansegg: Theoretisch wäre keine Verfassungsänderung notwendig. Es würde genügen, das nur einfachgesetzlich verfügte Ruhen der Wehrpflicht wieder aufzuheben. Für das automatische Wiederaufleben im Spannungs- und Verteidigungsfall wäre nicht einmal eine Gesetzesänderung nötig, weil das gesetzlich schon vorgesehen ist. Das Problem ist allerdings, dass eine Wehrpflicht, die man heute wieder einführen würde, aus sachlichen und politischen Gründen nicht einfach dem alten Modell – Einziehung aller volljährigen Männer – folgen könnte. Eine veränderte Form der Wehrpflicht wäre jedoch ohne Verfassungsänderung kaum denkbar.
NJW: Dann lassen Sie uns mal darüber sprechen, wie eine Wehrpflicht verfassungsrechtlich konform ausgestaltet werden könnte bzw. müsste.
Kielmansegg: Die Ausgestaltung der Wehrpflicht stößt auf zwei verfassungsrechtliche Herausforderungen. Zum einen die Wehrgerechtigkeit, weil wegen der begrenzten Personalstärke der Streitkräfte nur ein kleiner Teil eines Jahrgangs tatsächlich eingezogen werden könnte. Das war schon vor der Aussetzung der Wehrpflicht ein notorisches Problem. Die Gerichte haben dem Gesetzgeber bisher einen großen Spielraum gewährt, die Wehrgerechtigkeit durch die konkrete Ausgestaltung nominell zu sichern, etwa durch erhöhte Tauglichkeitsanforderungen, die den Kreis der tatsächlich wehrpflichtigen Personen einschränken. Aber das ist eine Gratwanderung und auch in der Sache unbefriedigend. Das zweite verfassungsrechtliche Problem liegt in der Gleichstellung der Geschlechter. Das Grundgesetz sieht die Wehrpflicht ausdrücklich nur für Männer vor, während eine Dienstpflicht für Frauen an der Waffe explizit ausgeschlossen ist. Das dürfte als Spezialregelung den Gleichheitsrechten vorgehen – aber politisch und mit Blick auf die längst etablierte Öffnung des Soldatenberufs für Frauen wäre das kaum noch vermittelbar. Es ist daher sinnvoll, über alternative Wehrpflichtmodelle nachzudenken – gerne diskutiert wird beispielsweise das schwedische Modell. Das würde dann aber eine entsprechende Verfassungsänderung erfordern.
NJW: Nun lässt sich der akute Personalmangel der Bundeswehr nicht leugnen. Sehen Sie neben der Wehrpflicht weitere Möglichkeiten, wie der sich beheben ließe?
Kielmansegg: Das ist in der Tat schwierig, selbst wenn man nicht an einen Aufwuchs der Streitkräfte, sondern nur an die Deckung ihres gegenwärtigen Personalbedarfs denkt. Es gibt Möglichkeiten, den Dienst attraktiver zu gestalten, aber sie sind begrenzt. Die Gefahren und Härten des Soldatenberufs sind im Kern unvermeidbar und kein Trumpf im Wettbewerb um schrumpfende Jahrgänge. Mehr gesellschaftliche Anerkennung wäre hilfreich, aber damit tut sich Deutschland nicht leicht.
NJW: Verfügt die Bundeswehr überhaupt über die notwendigen Voraussetzungen bzw. Infrastrukturen, um quasi über Nacht eine Vielzahl neuer Rekrutinnen und Rekruten aufzunehmen und auszubilden?
Kielmansegg: Nein, in keiner Weise. Im Übrigen existiert auch der frühere zivile Apparat einer Wehrersatzverwaltung nicht mehr. Schon deshalb wäre eine schnelle Wiedereinführung einer Wehrpflicht, ganz zu schweigen von einem automatischen Wiederaufleben im Spannungsfall, unrealistisch.
NJW: Ist das Vorhaben nicht auch mit Blick auf die Zunahme rechtsextremistischer Tendenzen riskant?
Kielmansegg: Nein. Warum sollte eine Wehrpflichtarmee anfälliger für Extremismus sein als eine Berufsarmee? Es ist auch nicht angemessen, Struktur und Personalbedarf der Streitkräfte primär von diesem Gesichtspunkt her zu denken. Soldaten müssen verfassungstreu sein, aber dieses Problem stellt sich für die Streitkräfte nicht prinzipiell anders als für andere Zweige des Staatsdienstes.
NJW: Geht mit der – unterstellten – Wiedereinführung nicht zugleich einher, dass militärische Gewalt als Instrument politischen Handelns zumindest eine Option sein könnte?
Kielmansegg: Nein. Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht wäre eher ein Signal für die Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung und nicht für Interventionseinsätze. Sie steht allerdings durchaus für die Einsicht, dass militärische Wehrhaftigkeit auch für ein demokratisches Gemeinwesen eine Notwendigkeit ist. Das haben Politik und Gesellschaft allzu leicht verdrängt.
Im Anschluss an seinen Wehrdienst studierte Prof. Dr. Sebastian Graf von Kielmansegg Jura an den Universitäten Freiburg, Edinburgh und Heidelberg. Nach dem Zweiten Staatsexamen war er Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Mannheim und wurde dort mit einer Arbeit zur Verteidigungspolitik der EU promoviert. In seiner Habilitation beschäftigte er sich mit Grundrechten im Nähe- bzw. Sonderstatusverhältnis. Seit August 2014 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Medizinrecht sowie Direktor des Instituts für Öffentliches Wirtschaftsrecht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Im gleichen Jahr wurde von Kielmansegg in den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Wehrrecht und Humanitäres Völkerrecht berufen.
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