Interview

Späte Berufung
Interview

Seit vielen Jahren verleiht der Kanzlei-Spezialist Soldan zusammen mit BRAK und DAV sowie dem Forum Junge Anwaltschaft den Kanzlei-Gründerpreis. In der elften Auflage wurde im Januar unter anderem Bettina Sievers aus Brühl ausgezeichnet. Sie hat sich erst spät und gleichsam auf dem zweiten Bildungsweg für den Anwaltsberuf entschieden – und dann auf ein wenig beliebtes Rechtsgebiet spezialisiert. Wir haben nachgefragt.

19. Feb 2025

NJW: Glückwunsch zu Ihrer Auszeichnung. Was hat die Jury an Ihrem Kanzleikonzept überzeugt?

Sievers: Die Jury hat mein Werdegang und die mutige Entscheidung beeindruckt, dass ich mich in dem als wenig lohnend geltenden Sozialrecht selbstständig gemacht habe.

NJW: Die Mehrheit der jungen Anwältinnen und Anwälte arbeitet heute lieber im Angestelltenverhältnis. Warum haben Sie die sichere Beschäftigung beim Sozialverband VdK gegen die Selbstständigkeit eingetauscht?

Sievers: Es war mein Traum, Rechtsanwältin zu werden, und das am liebsten in einer eigenen Kanzlei. Nur deshalb habe ich das Abitur nachgeholt und dann das Jurastudium begonnen. Nach dem Zweiten Staatsexamen war es mir aber wichtig, zunächst Berufserfahrung zu sammeln, bevor ich mich selbstständig mache. In dieser Zeit habe ich sehr viel praktische Erfahrungen gesammelt, von denen ich heute noch profitiere. Die Selbstständigkeit ist manchmal herausfordernd, aber für mich überwiegen eindeutig die Vorteile. Ich kann sehr selbstbestimmt arbeiten, sehe die Erfolge meiner Arbeit direkt und erfreue mich daran, dass meine Tätigkeit so vielfältig ist. Eine eigene Kanzlei bietet sehr viele Entwicklungsmöglichkeiten, und als Selbstständige bin ich frei in meiner Arbeit, setze meine Schwerpunkte und bin so beispielsweise auch noch nebenbei als Dozentin tätig.

NJW: Sie erwähnten bereits, dass Mandate im Sozialrecht gemeinhin als wenig lukrativ gelten. Weshalb haben Sie sich gleichwohl darauf spezialisiert?

Sievers: Bereits im Studium legte ich meinen Schwerpunkt auf das Arbeits- und Sozialrecht. Bei meiner Berufswahl ging es mir nie um große finanzielle Gewinne, denn es ist meine Leidenschaft, die Interessen von allen Bürgern gegenüber dem Staat und den Behörden zu vertreten und durchzusetzen. Ich bin sehr gerne als Rechtsanwältin auf der Seite tätig, auf der es noch nicht so viele Kolleginnen und Kollegen gibt. Das ist herausfordernd und spannend. Im Sozialversicherungsrecht haben Mandantinnen und Mandanten meist eine Sache gemeinsam: Sie leiden unter einer oder mehreren Erkrankungen. Jede, jeder kann von Krankheit betroffen sein und ist in der Regel sodann auf unser Sozialversicherungssystem angewiesen. Kommt es dann zur Ablehnung einer beantragten Leistung, trifft das die Betroffenen vielfach besonders hart. Die Mandanten und Mandantinnen im Sozialversicherungsrecht kommen daher aus allen Teilen der Bevölkerung mit Anliegen im Kranken-, Pflege-, Unfall-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungsrecht sowie mit Schwerbehindertenangelegenheiten zu mir. Das macht die Tätigkeit vielfältig, abwechslungsreich und interessant.

NJW: Trotzdem ist gerade das Sozialrecht unter Anwälten wenig beliebt, was verwundert, wenn man Ihnen zuhört. Haben Sie gleichwohl eine Erklärung dafür, von der finanziellen Komponente mal abgesehen?

Sievers: Das Sozialrecht wird im Kollegenkreis häufig gefürchtet, da es damit keine Berührungspunkte im Studium gibt. Nur bei der Wahl des Schwerpunkts „Arbeits- und Sozialrecht“ lernt man ein wenig Theorie. Danach ist noch praktische Erfahrung notwendig, um sich von den unter anderem langen Paragrafen sowie umfangreichen Gutachten nicht abschrecken zu lassen. Der Verdienst nach dem RVG ist übrigens gar nicht so schlecht, aber das große Problem ist leider, dass die Gegenseite, also die Behörden, im Rahmen eines Erstattungsanspruchs der Mandanten die Gebühren häufig infrage stellen und daher streitig machen, was einem im Zivilrecht mit den Kollegen der Gegenseite in der Regel nicht passiert. Ich kämpfe aber auch dagegen an, denn den Zugang zum Sozial- und Sozialversicherungsrecht halte ich für sehr wichtig.

NJW: Welche Rolle spielt für Ihre Spezialisierung auf sowie Begeisterung für das Sozialrecht, dass Sie zunächst eine Lehre als Erzieherin gemacht haben, bevor Sie das Abitur nachgeholt und Jura studiert haben?

Sievers: Die Ausbildung zur Erzieherin habe ich aus Überzeugung gemacht. Das war mein Traumberuf. Dann erhielt ich im Rahmen der Ausbildung durch das Fach „Recht und Verwaltung“ zum ersten Mal einen Einblick in die Juristerei und war sehr begeistert. Die Entscheidung, nach der Ausbildung noch mein Abitur nachzumachen, um dann Jura zu studieren, war gewagt, aber auch sehr überlegt. Mit der gleichen Leidenschaft, mit der ich vorher Erzieherin war, bin ich jetzt Rechtsanwältin.

NJW: Sie beraten ja unter anderem auch im Verkehrs- und im Arbeitsrecht. Ist diese Quersubventionierung nötig, um Mandate im weniger lohnenden Sozialrecht zu übernehmen?

Sievers: An erster Stelle steht für mich die Abwechslung, weshalb es mir schon immer wichtig war, in mehreren verschiedenen Rechtsgebieten zu beraten. Es freut mich, wenn Mandanten mit einer Sache zu mir kommen und mich später mit einem Anliegen aus einem anderen Rechtsgebiet erneut beauftragen. Inhaltlich wäre es mir auch zu langweilig, nur ein Rechtsgebiet zu bedienen, wobei etwa das Sozialrecht und das Versicherungsrecht in manchen Teilen auch recht ähnlich sind. Im Versicherungsrecht gibt es zwar einige Fachanwältinnen und -anwälte, jedoch meistens aufseiten der Versicherer oder in großen Kanzleien, die für Versicherungsunternehmen tätig sind und nicht aufseiten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Mir ist es wichtig, dass auch sie gegen Versicherungsunternehmen gut vertreten sind, so wie im Sozialrecht gegen die Behörden. Die Quersubventionierung ist dabei ein angenehmer Nebeneffekt, der es mir ermöglicht, meine Kanzlei weiter auszubauen.

NJW: Sie meinten eben, Sie hielten den Zugang zum Sozial- und Sozialversicherungsrecht für wichtig. Wie bewerten Sie den?

Sievers: Meiner Meinung nach ist er leider nicht sehr gut. Eine Ablehnung ist von einer Behörde schnell verfasst, aber die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe ist für die Betroffenen mit viel Aufwand und Hindernissen verbunden. Sie befinden sich bereits in einer angespannten Lage, sind beispielsweise krank, können daher ihrer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen und erhalten sodann bestimmte Sozialversicherungsleistungen nicht. Es gibt nur wenige Kolleginnen und Kollegen mit dem Schwerpunkt im Sozialrecht, daher ist die Suche nach einem passenden Rechtsbeistand aufwändig und schwierig.

NJW: Was raten Sie einer jungen Anwältin, einem jungen Anwalt, die/der über die Gründung einer eigenen Kanzlei nachdenkt?

Sievers: Wer eine eigene Kanzlei gründen möchte, sollte sich nach meiner Ansicht zunächst fragen, ob er bzw. sie selbstständig tätig und Unternehmer bzw. Unternehmerin sein möchte. Es gehört viel Verantwortung dazu, vom Personal über die technische Infrastruktur bis zu den Büroräumen liegt alles in einer Hand. Sollte eine junge Kollegin, ein junger Kollege neben der inhaltlichen Arbeit auch daran Freude haben, dann ist die eigene Kanzlei eine gute Entscheidung. Auch wenn ich nach dem Motto „Wo ein Wille, da ein Weg“ agiere, war es mir gleichwohl wichtig, die Kanzleigründung geplant anzugehen und einige strategische Überlegungen anzustellen. Die Nachfrage nach Rechtsanwälten ist groß, und es gibt immer weniger kleine Kanzleien, meine Konkurrenten sind inzwischen große Einheiten. Um sich hier abzuheben, spezialisieren sich Anwälte häufig auf ein Nischenthema oder zumindest auf ein Rechtsgebiet. Ich habe bereits ausgeführt, dass eine so enge fachliche Eingrenzung für mich nicht infrage kam. Meine Kanzlei zeichnet daher der persönliche Kontakt zur Mandantschaft aus und meine Leidenschaft für ihre Sache. Neben strategischen Überlegungen spielt aber auch das Glück eine Rolle: Ich betrachte es etwa als echten Glücksfall, dass ich zwei Mitarbeiterinnen gefunden habe, die mich in meiner Kanzlei sehr gewinnbringend unterstützen.

Nach ihrem Realschulabschluss absolvierte Bettina Sievers zunächst eine Ausbildung zur Erzieherin, um anschließend das Abitur nachzuholen und Jura an der Universität Bonn zu studieren. Im Anschluss an den juristischen Vorbereitungsdienst in Köln und das Zweite Staatsexamen war sie zwei Jahre für den Sozialverband VdK in Köln tätig. 2021 hat sie sich mit einer eigenen Kanzlei in Brühl selbstständig gemacht. Nebenberuflich ist Sievers als Dozentin tätig und engagiert sich außerdem im juristischen Beirat der Law Clinic an der Universität Bonn.

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Interview: Monika Spiekermann.