NJW: Herr Professor Lee, seit wann spielt deutsches Recht in Ihrer Heimat eine Rolle?
Lee: Beim Aufbau eines modernen Rechtsstaats war und ist Taiwan vielfach auf Rechtsrezeptionen angewiesen. Dabei spielte und spielt das deutsche Recht eine wesentliche Rolle. Allerdings lässt sich das nicht an einem genauen Zeitpunkt festmachen. Es war vielmehr ein schrittweiser Prozess, bei dem es einige zufällige Faktoren gab und andere auf gewisse Zwangsläufigkeiten zurückzuführen sind. Japan rezipierte in der Meiji-Periode (1868 – 1912) das deutsche Recht weitgehend. Durch den Friedensvertrag von Shimonoseki wurde Taiwan im Jahr 1895 von China an Japan abgetreten. Seitdem begann die Rezeption des deutschen Rechts in Taiwan. Während der japanischen Besatzungszeit wurden die vom deutschen Recht mitgeprägten Gesetze, vor allem das BGB, das HGB sowie das StGB, durch Verordnungen in Taiwan angewandt. Daneben wurde die moderne westliche Gerichtsbarkeit für zivil- und strafrechtliche Verfahren aufgebaut. Eine weitere Rechtsquelle stammt aus China. Die Qing-Dynastie und die Republik China rezipierten zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und den 1940 er Jahren auch das deutsche Recht weitgehend. Die aus dieser Zeit stammenden deutschen Gesetze wurden im Jahr 1949 ununterbrochen in Taiwan fortgesetzt und weitergeführt. Dank Weitergeltung und Anwendung dieser Gesetze orientiert sich die Entwicklung des Rechts in Taiwan in vielerlei Hinsicht weiter am deutschen Recht.
NJW: Lassen sich Gesetze eines Landes mit einem völlig anderen Kulturkreis denn so einfach übernehmen?
Lee: Nein, das fremde Recht fiel ja nicht in eine rechtlose Welt und konnte deshalb nicht eins zu eins übernommen werden. Rechtskultur hängt von der politischen Kultur einer Gesellschaft ab und prägt und festigt diese zugleich. In Taiwan geschah dies in einem Schritt-für-Schritt-Prozess. Zunächst mussten westliche, etwa deutsche Gesetze übersetzt werden, um sie übernehmen zu können. Dabei konzentrierte man sich zunächst auf die Einführung des deutschen Rechtssystems und den Vergleich damit. Während dieses Prozesses mussten die deutschen Gesetze jedoch modifiziert und an das heimische Rechtssystem und die Rechtskultur einschließlich des Gewohnheitsrechts angepasst werden. Darüber hinaus kann nicht außer Acht gelassen werden, dass bei Übernahme deutscher Gesetze die praktische Anwendung möglicherweise nicht die gleiche ist wie in Deutschland.
NJW: Gleichwohl ist diese Orientierung am deutschen Recht umso bemerkenswerter, als Deutschland Taiwan nicht anerkennt und keine diplomatischen Beziehungen unterhält. Beeinträchtigt dies den Rechtstransfer bzw. rechtswissenschaftlichen und rechtspraktischen Austausch zwischen beiden Ländern?
Lee: Ob Taiwan das deutsche Rechtssystem und seine Rechtskultur übernimmt, hängt davon ab, ob es für die Verbesserung der taiwanischen Rechtsordnung, vor allem für den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats, hilfreich sein kann. Dabei spielen internationale rechtliche bzw. diplomatische Beziehungen zwischen beiden Ländern keine entscheidende Rolle. Ganz gleich, ob es sich um juristische Forschung, wissenschaftliche Aktivitäten oder den Austausch in der Justizpraxis handelt, sind sie davon nicht betroffen und ist die rechtswissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten nach wie vor intensiv und wird immer enger.
NJW: Welche Vorteile bietet deutsches Recht gegenüber anderen Rechtsordnungen?
Lee: Der größte Vorteil besteht darin, dass es über ein klares Rechtssystem, eine feine juristische Denkweise, relativ vollständige Kodizes und wohlgeordnete Rechtsdiskurse verfügt, vor allem im Vergleich zu angloamerikanischen Rechtsordnungen. Nehmen Sie nur einen Kommentar als Beispiel. Er enthält nicht nur systematische Rechtsauslegungen und methodisches Rechtswissen, sondern auch reichhaltige praktische Entscheidungen zur Analyse und Referenz.
NJW: Das hören wir natürlich gerne. Können Sie den Einfluss deutschen Rechts anhand von Beispielen festmachen?
Lee: Bezogen auf meinen Forschungsschwerpunkt möchte ich zwei Beispiele nennen: Im Verfassungsrecht befinden sich in Art. 5 IV und V der Zusatzartikel der taiwanischen Verfassung die Bestimmungen über das Parteiverbotsverfahren, das nach dem Vorbild des Art. 21 II GG konzipiert ist. Dafür besteht ein eigenständiges Verfassungsgericht, das nach dem taiwanischen Verfassungsprozessgesetz funktioniert, das dem deutschen BVerfGG nachempfunden ist. Im Verwaltungsrecht wurden mit dem Verwaltungsverfahrensgesetz und dem Gesetz über den Verwaltungsprozess die deutschen Rechtsinstitute und die deutsche Verwaltungsrechtsdogmatik weitgehend übernommen, wie etwa Verwaltungsakte, Verwaltungsverträge, Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften, Klagearten im Verwaltungsprozess, Klagebefugnis, Schutznormtheorie usw. Man könnte sagen, dass diese taiwanischen Rechtsvorschriften nicht genau verstanden und richtig angewendet werden könnten, wenn man das deutsche Recht nicht kennt.
NJW: Ihr Land ist ein hochentwickelter Industriestaat und einer der demokratischsten Staaten Asiens. Inwiefern haben die Einflüsse des deutschen Rechts diese Entwicklung mitbefördert?
Lee: Der Zusammenhang zwischen technischer Entwicklung und Recht ist kompliziert. Vereinfacht lässt er sich in zwei Aspekte unterteilen: Innovation und Regulierung, wobei das deutsche Recht bei Letzterer größere Einflüsse hat als bei Ersterer. Hinsichtlich der technologischen Innovation gibt es relativ wenige direkte Rechtsvorschriften, wovon die meisten Rechtsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften sind, die sich mehr am amerikanischen Recht orientieren. Im Gegensatz dazu wird bei der Regulierung der Technologie oft deutsches Recht als Vorbild herangezogen und gesetzlich eingeführt oder einzuführen versucht, etwa zum Datenschutz, zur Kontrolle digitaler Plattformen usw. In jüngster Zeit wird Taiwan auch durch das EU-Recht beeinflusst, wobei die KI-Verordnung (AI-Act) in Taiwan weitgehend diskutiert wird und die zukünftige gesetzgeberische Zielsetzung sein könnte.
NJW: Inwiefern stellt die Taiwan-Frage eine besondere Herausforderung für das taiwanesische Recht dar?
Lee: In vielerlei Hinsicht. Neben Fragen der äußeren Landesverteidigung und der nationalen Sicherheit geht es vor allem um die rechtliche Verteidigung der liberalen demokratischen Verfassungsordnung, also die sogenannte wehrhafte oder streitbare Demokratie. Diesbezüglich haben wir viel von Deutschland gelernt. Außer dem Parteiverbotsverfahren bieten sich als Hauptbeispiel die gesetzlichen Bestimmungen an, worin „feindliche ausländische Kräfte“ als Straftatbestandsmerkmal vorgesehen sind. Die Etablierung solchen Strafrechts geht auf die Androhung von Gewalt und kognitiver Kriegsführung durch Festlandchina zurück. Aus Sicht der demokratischen Rechtsstaatlichkeit stellt sich allerdings die Frage, ob das Strafrecht als rechtliches Mittel zur Aufrechterhaltung einer freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung geeignet, erforderlich und angemessen ist, was auch ein Teil der „freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung“ ist.
NJW: Welche Bedeutung hat die deutsche Rechtskultur in Taiwan?
Lee: Das lässt sich nur schwer abschätzen. Während das Gedankengut des Rechtsstaats bereits über Jahrhunderte hinweg in den Rechtskulturen westlicher Länder wie auch Deutschlands tief verwurzelt ist, beginnt in Taiwan erst seit dem 20. Jahrhundert mittels Rechtsrezeption die Blütezeit des modernen Rechts. Für uns ist es noch ein langer Weg bis zur Kultivierung der freiheitlichen demokratischen Rechtsstaatlichkeit.
Prof. Dr. Chien-Liang Lee ist Direktor am Institutum Iurisprudentiae der Academia Sinica, Taipeh, und Joint Appointment Professor an der juristischen Fakultät der National Taiwan University. Der Rechtswissenschaftler mit einem ausgeprägtem Deutschlandbezug lernte während des Jurastudiums in Taiwan die deutsche Sprache und Fachterminologie. An der Universität Göttingen wurde er mit einer immissionsschutzrechtlichen Arbeit promoviert, seit 2018 gehört er der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer an.
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