Er hat im Auftrag von Campact und des Deutschen Kinderhilfswerks ein Rechtsgutachten dazu erstellt, das den gesetzgeberischen Handlungsbedarf aufzeigt und ein Schutzkonzept entwickelt.
NJW: Inwiefern kann das Teilen von Kinderfotos oder -videos im Netz eine Kindeswohlgefährdung darstellen?
Claßen: Für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist es essenziell, dass sie in einer sicheren Umgebung mit geschützten Rückzugsorten aufwachsen. Hüter dieser Rückzugsorte sollten die Eltern sein. Zunehmend ist es jedoch so, dass gerade Eltern durch unbedachtes Teilen von Fotos ihrer Kinder im Internet die Tür zum Kinderzimmer – also zur Privatsphäre des Kindes – für ein unbekanntes Online-Millionenpublikum öffnen. Nicht selten werden Kinder dabei in peinlichen, emotionsgeladenen oder sogar intimen Situationen gezeigt. Gerade im Bereich des Influencer-Marketings werden sie zudem zu Werbezwecken instrumentalisiert. Daraus resultieren Gefahren wie die unkontrollierte Verbreitung der Fotos, schlimmstenfalls auch in pädokriminellen Netzwerken. Durch derartiges „Sharenting“ werden die Persönlichkeitsrechte von Kindern täglich tausendfach in den sozialen Netzwerken verletzt. Wann in diesen Fällen die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung erreicht ist, bedarf allerdings einer fachlichen Einzelfallbewertung.
NJW: Gilt das auch für die Fälle, in denen das Gesicht des Kindes unkenntlich gemacht bzw. für Content, der nicht kommerziell genutzt wird?
Claßen: Zu kommerziellen Zwecken sollte gar nicht in die Privatsphäre von Kindern eingegriffen werden, wenn diese nicht wirksam – also mit Einsichtsfähigkeit – eingewilligt haben. Außerhalb der kommerziellen Veröffentlichung empfehle ich bei einem Teilen von Kinderfotos in den sozialen Medien zumindest das von Ihnen erwähnte Unkenntlichmachen des Gesichts und das Kind darüber hinaus in keiner für es unangenehmen Situation zu zeigen.
NJW: Nun gibt es aber durchaus Kinder, die sich gerne vor einer Kamera produzieren. Ändert das etwas an der rechtlichen Bewertung?
Claßen: Nein. Abzustellen ist auf die Einsichtsfähigkeit. Das Kind sollte überblicken können, welche Risiken mit der Öffnung der Privatsphäre einhergehen. Dies setzt auch eine gewisse Medienkompetenz voraus, die von Eltern und in der Schule vermittelt werden sollte.
NJW: Heißt das im Ergebnis, dass die Nutzung von Kid-Content generell verboten werden sollte bzw. sogar müsste?
Claßen: Kommerzielle Veröffentlichungen von Aufnahmen, die Kinder in privaten Situationen zeigen, sollten tatsächlich bis zu einem gewissen Alter des Kindes generell unzulässig sein. Wenn die Persönlichkeitsrechte der Kinder dagegen beachtet werden, kann Kid-Content genutzt werden. Unser Anliegen ist ja nicht, dass sie in den sozialen Medien gar nicht vorkommen. Kinder sind wunderbar, und ich verstehe das Anliegen von Eltern, dass man die Freude an und mit ihnen auch mit anderen teilen möchte.
NJW: Dann lassen Sie uns mal einen Blick auf die gesetzlichen Vorgaben werfen, die die kommerzielle Nutzung von Kinderfotos im Netz in geordnete Bahnen lenken.
Claßen: Es gibt bislang keine klaren Vorgaben, weshalb wir in unserer Kanzlei, die auf den Persönlichkeitsschutz spezialisiert ist, die Köpfe zusammengesteckt haben.
NJW: Herausgekommen ist dabei ein mehrstufiges Schutzkonzept. Erzählen Sie mal.
Claßen: Ausgangspunkt für unser Schutzkonzept sind die Interessen des Kindes und dessen Einsichtsfähigkeit in Bezug auf eine Einwilligung in die kommerzielle Veröffentlichung von Fotos und Videos. Dabei gelten vier altersabhängige Stufen: Bis zur Vollendung des siebten Lebensjahres gilt ein vollumfängliches Veröffentlichungsverbot, da Kinder in diesem Lebensabschnitt besonders schutzbedürftig sind. Ab dem siebten Lebensjahr gilt bei fehlender Einsichtsfähigkeit des Kindes ebenfalls ein Veröffentlichungsverbot. Eine Veröffentlichungsbefugnis der Eltern besteht ausnahmsweise bei zusätzlicher Einwilligung durch einen Ergänzungspfleger. Bei bestehender Einsichtsfähigkeit, das heißt ab dem 10. bis 12. Lebensjahr, müssen die Eltern und das Kind in die Veröffentlichung einwilligen. Ab dem 16. Lebensjahr besteht eine Alleinentscheidungsbefugnis des Jugendlichen.
NJW: Wie realistisch ist es, dass sich ein Kind gegen seine Eltern stellt und in die Veröffentlichung solcher Fotos nicht einwilligt? Vor allem, wenn damit der Familienunterhalt maßgeblich verdient wird?
Claßen: Bis zu einem gewissen Alter werden Kinder gar nicht verstehen, was eine Veröffentlichung von Fotos in den sozialen Medien bedeutet und was für Folgen dies haben kann. Folglich werden sie sich auch nicht gegen ihre Eltern stellen und Fürsprecher in eigener Sache sein. Konsequenz dieser Einsicht ist, dass unabhängige Stellen die Beachtung der Kinderrechte kontrollieren müssen. Dies können etwa Jugendämter oder für den medialen Bereich auch Landesmedienanstalten sein. Und zum Finanziellen: Soweit Kinder und Jugendliche Einnahmen durch die Veröffentlichung von Fotos erzielen, etwa im Bereich des Influencer-Marketings, sind diese nach unserem Schutzkonzept auf ein Treuhandkonto zugunsten des minderjährigen Kindes einzuzahlen und ihm nach Erreichen der Volljährigkeit auszuzahlen.
NJW: Unterstellen wir mal, die kommerzielle Nutzung eines Kinderfotos in den sozialen Medien stellt eine konkrete Kindeswohlgefährdung dar. Wie geht es dann weiter? Wer hat dann welche Möglichkeiten, dagegen vorzugehen?
Claßen: Das Jugendamt kann dann beispielsweise eingeschaltet werden, oder ein Elternteil beauftragt einen Anwalt, um die Rechte des Kindes zu schützen.
NJW: Den Jugendämtern kommt also eine Schlüsselfunktion bei der Unterbindung kindeswohlgefährdender Veröffentlichung zu. Ist das angesichts deren massiver Personalnot nicht ein wenig blauäugig?
Claßen: Gegenfrage: Soll die Alternative etwa sein, dass man die immer weiter ausufernden Verletzungen der Persönlichkeitsrechte einfach hinnimmt? Das wäre eine bedenkliche Kapitulation. Es ist Aufgabe der Politik, hier Abhilfe zu schaffen.
NJW: Sie wollen darüber hinaus auch die Medienkompetenz der Beteiligten verbessern; Sie bezeichnen dies als essenziell für das Gelingen Ihres Konzepts. Auch in dem Bereich fehlt es an Fachkräften.
Claßen: Ich halte es für wichtig, dass hinsichtlich der Kinder-Persönlichkeitsrechte zunächst einmal eine Sensibilisierung stattfindet. Das kann auf verschiedene Weise erfolgen: durch die mediale Thematisierung der Problematik, durch Förderung von Medienkompetenz beispielsweise in Elternratgebern und in Schulen oder bei Kindeswohlgefährdungen durch Gerichtsentscheidungen.
NJW: Warum sind Sie trotz dieser Kritik überzeugt, dass Ihr Konzept funktionieren kann?
Claßen: Weil ich bislang niemanden getroffen habe, der nicht auch der Überzeugung ist, dass Kinderrechte zu schützen und Schutzlücken zu schließen sind.
Dr. Jörn Claßen studierte Jura an den Universitäten Bielefeld und Münster. Im Anschluss an das Erste Staatsexamen absolvierte er eine Ausbildung zum Reserveoffizier an der Offizierschule der Luftwaffe und arbeitete als Unternehmensjurist bei einem der in Europa führenden Special-Interest-Verlage in Bielefeld. Nach Promotion, Referendariat und Zweitem Staatsexamen schloss er sich als Rechtsanwalt einer auf Marken- und Medienrecht spezialisierten Kanzlei an. 2020 gründete er zusammen mit Dr. Lucas Brost die auf rechtlichen Reputations- und Persönlichkeitsschutz von Unternehmen und Personen spezialisierte Einheit Brost Claßen. Seit 2018 lehrt er an den Hochschulen Fresenius und Macromedia, seit letztem Jahr ist er Dozent für Presserecht an der Universität Liechtenstein und publiziert regelmäßig zu medienrechtlichen Themen.
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