NJW: Bis vor zehn Jahren wurden Bundesverfassungsrichter vom Wahlausschuss gewählt, seit einer Reform 2015 vom Plenum. War das ein sinnvoller Schritt?
Gärditz: Ich bewerte das ambivalent. Mit der Reform wurde vor allem das Ziel verfolgt, die Wahl transparenter zu machen und die formale Legitimation des BVerfG zu stärken. Das sind legitime Motive. Allerdings wurde – wie sich zeigt: mit Recht – von Anfang an zugleich davor gewarnt, dass damit auch eine Politisierung der Richterwahl drohen könnte. Die inhärenten Risiken wurden in Kauf genommen. Die Wahl der Richterinnen und Richter an das BVerfG setzt aber als Mindestbedingung eine fachlich-professionelle Personalauswahl voraus, die sich nur begrenzt transparent machen lässt. Man kann nicht eine Berufsbiografie von über zwei Jahrzehnten auf ein paar Aussagen reduzieren, die eine Willensbildung im Plenum ermöglicht. Zwar gründet auch die Legitimationssicherung der Richterwahl auf parlamentarischem Vertrauen. Sie ist aber nicht auf eine Wahl in ein politisches Amt gerichtet, sondern auf ein Richteramt, das funktionsspezifisch gerade hinreichende Distanz von der Politik verlangt. Die Ausgewogenheit der Besetzung der beiden Senate, auf der das Vertrauen in das Gericht ganz wesentlich beruht, erfordert als Grundbedingung – noch vor der „Passfähigkeit“ – fachliche Qualität, die sich nicht politisch beurteilen lässt. Ich habe den Eindruck, dass diese Besonderheiten des sehr spezifischen Wahlverfahrens zuletzt von einer Fraktionsführung den Abgeordneten nicht gut vermittelt worden sind.
NJW: Welche weiteren Risiken sind mit der Politisierung der Wahl verbunden?
Gärditz: Sie beschädigt das Gericht, wenn gewählte Richterinnen und Richter ihre Arbeit nur mit der Belastung eines politischen Konflikts antreten können und ihnen aufgrund von – willkürlich zugeschriebenen – Eigenschaften misstraut wird. Die Streitschlichtungsfunktion des Gerichts lebt auch von Vertrauen, das sich das Gericht einerseits täglich erarbeiten muss, andererseits aber auch von der Politik nicht dysfunktional untergraben werden sollte.
NJW: Sollte man diesen Reformansatz von 2015 also wieder rückgängig machen?
Gärditz: Man muss zunächst sehen, ob es dem Deutschen Bundestag nicht doch noch gelingt, öffentliche Konflikte um Richterwahlen wieder durch Vertrauensbildung sowie gute alte Fraktionsdisziplin einzufangen. Wenn sich die Plenumswahl in einem viel stärker polarisierten Parlament wirklich nicht bewährt, sollte man sie pragmatisch wieder abschaffen. Das frühere Wahlverfahren hat Jahrzehnte gut funktioniert.
NJW: Aus Kreisen der Union wurde zuletzt vorgeschlagen, die Kandidatinnen und Kandidaten nur noch mit einfacher Mehrheit zu wählen. Was halten Sie davon?
Gärditz: Das würde den sinnvollen Zwang zur breiten Konsensbildung aushebeln und die Gefahr erhöhen, dass – wie in den USA – zufällig nachzubesetzende Ämter am BVerfG zur Beute einer jeweils aktuellen Mehrheit würden. Man könnte zwar den Vorschlag des Wahlausschusses weiterhin an eine Zweidrittelmehrheit binden und lediglich die Bestätigung im Plenum einfachen Mehrheiten übertragen. Dann kann man aber die Plenumswahl gleich streichen.
NJW: Wäre es denkbar bzw. eine Verbesserung, dass die Wahl im Plenum nicht mit verdeckten Stimmzetteln erfolgt?
Gärditz: Das würde die Fraktionsdisziplin stärken. Wenn man aber – sinnvollerweise – Richterwahlen arbeitsteilig organisiert und sich darauf verlässt, dass die Mitglieder der Bundestagsfraktionen den Vorschlägen der jeweiligen Berichterstatterinnen und -erstatter vertrauen – das ist normale parlamentarische Praxis –, reduziert das wiederum den Mehrwert der Plenumswahl gegenüber einer Entscheidung durch den Wahlausschuss.
NJW: Was halten Sie von dem Vorschlag, die (Aus-)Wahl der Richterinnen und Richter an das BVerfG auf ein interdisziplinäres Gremium aus Politikern, Richtern und Repräsentanten sonstiger Gruppen zu verlagern?
Gärditz: Das würde die demokratische Legitimation des Gerichts untergraben, dessen Aufgabe, auch die Verfassungsbindung des demokratischen Gesetzgebers (namentlich durch Normverwerfung) zu kontrollieren, ein besonders hohes Legitimationsniveau erfordert. Die Abgeordneten des Wahlausschusses werden sich ohnehin auch externe Expertise beschaffen. Die Beurteilung, wie qualifiziert ein Bundesrichter oder eine Staatsrechtsprofessorin ist, wird ohne Hinzuziehung von Sachverstand aus der Justizverwaltung bzw. von ausgewiesener Verfassungsexpertise schwer möglich sein. Wie die Selbstinformation konkret verläuft, weiß man als Außenstehender nicht, aber sicher gibt es solche Prozesse interner Prüfung sowie Beratung, nicht zuletzt über das organisierte (parteipolitische) Vorfeld.
NJW: In dem Zusammenhang müssen wir auch auf den immer wieder vorgebrachten Vorschlag zu sprechen kommen, nach dem das Volk die Richterinnen und Richter des BVerfG wählen soll. Was spricht Ihrer Meinung dagegen?
Gärditz: Das wäre albern. Die Erfahrungen in den USA, in denen es solche Wahlverfahren auf Staatenebene teilweise gibt, sind desaströs. Eine solche Politisierung wäre von vornherein unvereinbar mit den Funktionsmechanismen eines Gerichts, das nach Sachgründen entscheiden und gerade auch Minderheitenpositionen schützen muss.
NJW: Es wird auch immer wieder diskutiert, ob sich Kandidatinnen und Kandidaten einem öffentlichen Auswahlprozess wie dem in den USA stellen sollten. Ihre Meinung hierzu?
Gärditz: Das wäre dysfunktional. Zuletzt wurde das 2015 seitens der grünen Bundestagsfraktion vorgeschlagen. Die breite Öffentlichkeit versteht nichts von den komplexen Arbeitsroutinen eines Gerichts, von den anspruchsvollen Methoden der Verfassungsinterpretation oder der verwinkelten Verfassungsdogmatik. Es bliebe also eine leere Inszenierung von Transparenz.
NJW: Wäre stattdessen eine Vorstellung und Befragung in allen Bundestagsfraktionen hinter verschlossenen Türen sinnvoll?
Gärditz: Das könnte Vertrauen stiften.
NJW: Kritisiert wird auch die informelle Absprache zwischen den Parteien, die Vorschlagsrechte nach einem bestimmten Schlüssel unter sich aufzuteilen. Zu Recht?
Gärditz: Vorschlagsrechte sind der Versuch, Pluralität im Gericht abzubilden. Sie sind kaum vermeidbar, auch wenn es den Fraktionen gut zu Gesicht stünde, möglichst breiten Konsens abzubilden und gemeinsame Vorschläge zu machen. Es gibt allerdings praktische Probleme des altbundesrepublikanischen Proporzdenkens: Der AfD kann man offenkundig kein Vorschlagsrecht einräumen, solange sie die verbreitete Verfassungsfeindlichkeit und das peinliche Auftreten ihrer Akteure nicht in den Griff bekommt. Umgekehrt wird man der Linken eine Mitwirkung bei der Personalauswahl nicht verweigern können, zumal wenn die bislang beteiligte FDP in der Bedeutungslosigkeit versinkt. Das sollte aber nicht dazu führen, dass ein Parlament mit fiktiven „rechten“ Mehrheiten durch Subtraktion der AfD das BVerfG mit einer strukturellen Dominanz „linker“ Vorschlagsrechte besetzt. Das würde das Vertrauen in das Gericht untergraben.
NJW: Sollte man das Vorschlagsrecht gesetzlich regeln?
Gärditz: Nein, das ist ein informales Prozedere. Gerade in polarisierten Zeiten benötigt man eher demokratische Flexibilität.
NJW: Sehen Sie weitere Reformansätze?
Gärditz: Alle Abgeordneten sollten ein Interesse an einem BVerfG haben, das politisch ausgewogen, professionell und distanziert von der Politik entscheidet. Denn jeder kann einmal in einem politischen Konflikt auf neutrale Verfassungsrechtsprechung angewiesen sein. So sollte man sich dann auch im Umgang mit Richterwahlen verhalten.
Seit dem Sommersemester 2009 lehrt Prof. Dr. Klaus Ferdinand GärditzÖffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Von Juli 2014 bis Mai 2021 war er stellvertretendes Mitglied des VerfGH NRW, von März 2015 bis Februar 2021 im Nebenamt Richter am OVG Münster. Seit September 2022 ist Gärditz Mitglied der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentags.
Dieser Inhalt ist zuerst in der NJW erschienen. Sie möchten die NJW kostenlos testen? Jetzt vier Wochen gratis testen inkl. Online-Modul NJWDirekt.