NJW: Verstößt Prostitution gegen die Menschenwürde? Oder ist sie sogar vom GG geschützt?
Bartsch: Bei der freiwillig ausgeübten Prostitution handelt es sich um eine Tätigkeit, die nach unserem Dafürhalten weder gegen Vorschriften des Grundgesetzes noch gegen internationalrechtliche Regelungen verstößt. Insbesondere ist in der freiwillig ausgeübten Prostitution auch kein Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie zu sehen. In dem Nichtannahmebeschluss zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von Sperrbezirksverordnungen nach Art 297 EGStGB aus dem Jahr 2009 hat das BVerfG die Tätigkeit von Prostituierten auch ohne Weiteres als Beruf eingestuft.
NJW: Was hat der Bundestag im Jahr 2016 auf Initiative der Großen Koalition mit dem Gesetz beabsichtigt, nachdem Rot-Grün 2001 mit dem ProstG die Sittenwidrigkeit dieser Tätigkeit abgeschafft hatte?
Bartsch: Der Gesetzgeber war und ist der Auffassung, dass zum Schutz von Prostituierten spezialgesetzliche Regelungen erforderlich sind. Er stuft die Prostitution als „gefahrgeneigte Tätigkeit“ ein. Risiken sieht er dabei zum einen für die sexuelle Selbstbestimmung von Prostituierten; es geht mithin um den Schutz vor Menschenhandel und sexueller Ausbeutung. Zum anderen ist ihm am Gesundheitsschutz gelegen.
NJW: Wie sollte das erreicht werden?
Bartsch: Um diesen Risiken besser begegnen zu können, wurde zuvorderst ein Anmeldeverfahren geschaffen, in dem Prostituierte über ihre Rechte aufgeklärt werden sollen, außerdem ist eine gesundheitliche Beratung Teil des Anmeldeverfahrens. Des Weiteren soll in diesem Verfahren von den Mitarbeitenden der Behörden darauf geachtet werden, ob Prostituierte von Menschenhandel oder Ausbeutung betroffen sind. Daneben kennt das ProstSchG unter anderem ein gewerberechtliches Erlaubnisverfahren für Betreiber und Betreiberinnen von Prostitutionsgewerben, Vorschriften, die die Arbeitsbedingungen verbessern sollen, Überwachungsbefugnisse der zuständigen Behörden, Werbeverbote – etwa für den Geschlechtsverkehr mit schwangeren Prostituierten – und eine Kondompflicht.
NJW: Hat die Politik diese Ziele erreicht?
Bartsch: Wir konnten deutliche Anhaltspunkte dafür finden, dass die konkret verfolgten Ziele zu einem erheblichen Teil erreicht wurden. Das gilt zunächst für einige, die mit dem Anmeldeverfahren verbunden sind. Viel spricht dafür, dass es gelingt, Prostituierte in diesem Rahmen über ihre Rechte zu informieren, sie über gesundheitliche Risiken aufzuklären und ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, in schwierigen Lebenslagen Unterstützung zu erhalten. Gleiches gilt für Ziele, die mit dem Erlaubnis- und Überwachungsverfahren verfolgt werden: Auf Basis der gewonnenen Daten ist anzunehmen, dass sich die Arbeitsbedingungen in erlaubten Prostitutionsgewerben ebenso verbessert haben wie die Möglichkeiten zur staatlichen Überwachung. Jedenfalls in Teilen zeigt auch die Kondompflicht die erwünschte Wirkung. Entgegen einer schon weit vor dem Abschluss dieser Evaluation zu lesenden Bewertung ist das ProstSchG daher nicht gescheitert. Vielmehr kann es durchaus Erfolge vorweisen.
NJW: Also aus Ihrer Sicht alles in bester Ordnung?
Bartsch: Nein, es gibt viel, was man noch verbessern kann. Das haben wir mit mehr als 60 Empfehlungen deutlich gemacht. Ein zentraler Punkt ist sicher, dass es bislang nur selten gelingt, im Anmeldeverfahren Betroffene von Menschenhandel und Ausbeutung zu erkennen. Das liegt jedenfalls auch daran, dass die Mitarbeitenden der Behörden vielfach unzureichend auf ihre verantwortungsvolle Tätigkeit vorbereitet und auch nur zu einem geringen Anteil an Qualifizierungsmaßnahmen teilgenommen haben. Außerdem findet das Anmeldeverfahren bislang insgesamt wenig Akzeptanz bei Prostituierten.
NJW: Woran liegt das?
Bartsch: Die Gründe hierfür liegen etwa in der Sorge davor, dass die Daten bei den Behörden nicht ausreichend geschützt sind. Tatsächlich haben wir jedenfalls vereinzelt einen doch eher laxen Umgang mit diesen hochsensiblen Angaben festgestellt. Ein weiteres Problem: Prostitution ist in Deutschland zwar eine erlaubte Tätigkeit, aber Prostituierte erfahren nach wie vor teils massive Benachteiligung und Stigmatisierung. Deshalb sagen 35 % der Befragten noch nicht einmal ihrer Familie, dass sie der Prostitution nachgehen. Auch diese Diskriminierung und Stigmatisierung haben wir als ein erhebliches Problem beschrieben, dessen sich die staatlichen Institutionen annehmen müssen.
NJW: Werden Heranwachsende ausreichend geschützt?
Bartsch: Heranwachsende müssen die Anmeldung jedes Jahr wiederholen, Erwachsene nur alle zwei Jahre. Insgesamt sollte unseres Erachtens künftig im Anmeldeverfahren indes noch mehr differenziert werden. So ist der Beratungsbedarf bei Heranwachsenden auch angesichts möglicher Reifedefizite tendenziell deutlich größer, als dies bei einer Prostituierten der Fall ist, die schon zwanzig Jahre im Geschäft ist.
NJW: Gibt es Defizite bei den Ämtern?
Bartsch: Abgesehen von der teils unzureichenden Aus- und Fortbildung der Mitarbeitenden muss man fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, dass auch sehr kleine Kommunen für die Durchführung des Anmeldeverfahrens zuständig sind. Dort kommt vielleicht ein- bis zweimal im Jahr jemand, um sich anzumelden. Wie aber soll bei einer solch geringen Zahl ausreichend Erfahrung gesammelt werden, um etwa Opfer von Menschenhandel zu erkennen? Daher plädieren wir dafür, das Anmeldeverfahren vermehrt zu zentralisieren. Erhebliche Potenziale bestehen auch bei der Überwachung von Prostitutionsgewerben. So gelingt es bislang noch unzureichend, nicht-erlaubte Betriebe zu entdecken. Hinzu kommt, dass der Bereich der Plattformen, auf denen Prostituierte und Kunden zusammenfinden, stark gewachsen ist. Dieser digitale Bereich ist noch vollkommen unreguliert.
NJW: Was halten die Prostituierten selbst davon?
Bartsch: Die Akzeptanz des Anmeldeverfahrens ist dort insgesamt noch deutlich ausbaufähig. Allerdings kommen die von uns Befragten, die an dem Verfahren teilgenommen haben, überwiegend zu einer positiven Bewertung: Um die 70 % sagten, dass sie bei Anmeldung und gesundheitlicher Beratung über mögliche Risiken gut informiert worden seien und dass sie jeweils nützliche Informationen bekommen hätten. Knapp 50 % haben im Rahmen der Anmeldung außerdem von speziellen Beratungsangeboten für Prostituierte erfahren.
NJW: Und wie ist die Einstellung der Bordellbetreiber zu den Regelungen?
Bartsch: Auch die haben das Gesetz insgesamt recht positiv bewertet, wobei man dazu sagen muss, dass wir fast nur Betreiber und Betreiberinnen erlaubter Prostitutionsgewerbe erreicht haben. Nicht wenige haben jedoch den erheblichen bürokratischen Aufwand beklagt, der mit dem nunmehr verbundenen Erlaubnisverfahren verbunden ist. Spürbar war aber auch, dass viele froh sind, aus dem vorher bestehenden rechtlichen Graubereich herausgetreten zu sein.
NJW: Bei Prostituierten mögen manche nur an Frauen denken. Haben Sie Erkenntnisse, wieviele Männer in der Prostitution tätig sind? Und umgekehrt dazu, wie viele Frauen zu männlichen „Sexarbeitern“ gehen?
Bartsch: Ich kann Ihnen nur sagen, wie das Geschlechterverhältnis der befragten Prostituierten aussieht: 83,5 % der Befragten haben sich als weiblich definiert, 7,4 % als männlich, 3,9 % als non-binär, 4,9 % als trans und 0,3 % anders. Bei den Kunden und Kundinnen identifizierten sich 93,6 % mit dem männlichen Geschlecht, 6,0 % mit dem weiblichen und der Rest gab Anderes an. Ob und inwieweit das auf die Gesamtheit der Prostituierten und ihrer Kunden zutrifft, konnten wir mit unserer Studie nicht klären.
Prof. Dr. Tillmann Bartsch ist stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Dort war er zuvor mehrfach Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seit 2023 vertritt er den Lehrstuhl für Kriminologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Nach seinem Referendariat arbeitete er als angestellter Rechtsanwalt in einer Sozietät in Gießen und Frankfurt a.M.; anschließend Promotion zum Dr. iur. am Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen.
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