NJW: Bevor wir uns über die weltweite Situation der Menschrechte unterhalten, würden wir zunächst einmal gern wissen, was Ihre Aufgaben sind.
Türk: Seit 1993 haben die UNO-Mitgliedstaaten mein Amt damit betraut, die Menschenrechte aller Menschen weltweit zu fördern und zu schützen. Über ein Netzwerk von Menschenrechtsbüros und -beratern in derzeit über 80 Ländern und unsere Zentralen in Genf sowie New York beobachten wir die Menschenrechtslage weltweit und intervenieren – mit vertraulichem Dialog, technischer Hilfe und auch öffentlicher Kritik – zum Schutz von einzelnen Opfern und zur Verhinderung, oder zumindest Milderung, von größeren Krisen.
NJW: Wie ist es denn um die Menschenrechte bestellt?
Türk: Wir befinden uns an einem klaren historischen Scheidepunkt. Schaffen wir es, die internationalen Normen und Institutionen zu erhalten, die 80 Jahre lang für mehr Frieden, Freiheit und Fortschritt gesorgt haben, gerade auch hier in Europa? Ich denke da nicht nur an die internationalen Menschenrechte, sondern auch an das Verbot von Gewalt und Annexion in zwischenstaatlichen Beziehungen als auch die institutionelle Kooperation in den Vereinten Nationen zu globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der risikobewussten Nutzung von Künstlicher Intelligenz.
NJW: Was bereitet Ihnen gerade am meisten Sorge?
Türk: Ich beobachte mit großer Sorge, dass der Einsatz für Menschenrechte zunehmend mit einer bestimmten politischen Ausrichtung gleichgesetzt wird. Dabei geht es doch um das Wohl und die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse aller Menschen, ganz gleich ihrer politischen Gesinnung. In Europa und anderswo bieten Demagogen versimpelte Erklärungen und Scheinlösungen für komplexe Probleme an, welche oft Migranten und Minderheiten dehumanisieren und zu Sündenböcken machen. Gerade in Europa kennen wir die schrecklichen Folgen, die sich aus solcher Politik ergeben können. Bei der Gleichberechtigung und den Frauenrechten sehe ich teilweise auch Rückschritte. Debatten, die schon lange ausgestanden schienen, werden wieder hochgekocht. Wem dient das, muss man fragen.
NJW: In dem Kontext müssen wir auch über die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten sprechen.
Türk: Bewaffnete Konflikte wie in der Ukraine und im Nahen Osten gehen mit schweren Menschenrechtsverletzungen einher. Gerade beim Nahostkonflikt führt dies weltweit zu Kontroversen und Protesten auch in Europa. In Ausübung der Meinungsfreiheit muss Kritik am Verhalten und den Zielsetzungen der Kriegsparteien geübt werden dürfen, solange sie nicht in Antisemitismus oder Islamophobie abschweift, die zur Diskriminierung oder Gewalt gegen bestimmte Gruppen von Menschen anstachelt. Zugleich gibt es Kriege, deren Ausmaß an Leid in Europa fast nicht wahrgenommen wird. Mehr als zwei Jahre brutaler Krieg im Sudan haben zwölf Millionen Menschen vertrieben. Im Ostkongo untersucht mein Büro Vorwürfe von massenhaften Vergewaltigungen durch die Kriegsparteien dort. Wir können mehr, als nur tatenlos zuzusehen. Solche Kriege werden oft durch den illegalen Export von Rohstoffen finanziert. Gesetze wie das deutsche Lieferkettengesetz können dabei helfen, skrupellosen Armeen und bewaffneten Gruppen den Geldhahn abzudrehen.
NJW: Was kann man darüber hinaus zum Schutz der Menschenrechte tun?
Türk: Dank dem Völkerstrafgesetzbuch hat die deutsche Justiz Mittel, Einzeltäter von schwersten Menschenrechtsverletzungen zu belangen. Die Verurteilungen von syrischen Geheimdienstmitarbeitern wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch deutsche Gerichte haben ein wichtiges Zeichen gesetzt, das andere Täter aufhorchen lässt. Mein Büro arbeitet nationalen Justizbehörden in solchen Ermittlungen oft zu und unterstützt auch den IStGH in Den Haag, der unberechtigten Angriffen ausgesetzt ist, die seine wichtige und unabhängige Arbeit untergraben wollen.
NJW: Und welche Möglichkeiten haben Sie, um Menschenrechte insbesondere in bewaffneten Konflikten durchzusetzen?
Türk: Der UNO-Menschenrechtsrat ernennt regelmäßig unabhängige Kommissionen, die mit der Unterstützung meines Büros schwerste Menschenrechtsverletzungen untersuchen und Beweismaterial sicherstellen. In vielen Fällen gewähren die betroffenen Länder keinen Zugang, aber dank moderner Kommunikationsmittel und der Kooperation geflüchteter Opfer können wir dennoch dokumentieren, was dort vor sich geht. Auf Grundlage meines von der UNO-Generalversammlung erteilten Schutzmandats kann ich als Hochkommissar auch eigene menschenrechtliche Ermittlungen einleiten. Zum Beispiel haben wir kürzlich eine umfassende Untersuchung zu Menschenrechtsverletzungen in Bangladesch durchgeführt, auf Bitten der Übergangsregierung dort. Der UNO-Sicherheitsrat kann Sanktionen gegen individuelle Menschenrechtsverletzer verhängen und tut dies in einer Reihe von Situationen, indem er alle Staaten verpflichtet, die Konten von Tätern einzufrieren und ihre Reisefreiheit zu beschränken.
NJW: Trotzdem stehen die Menschenrechte aktuell massiv unter Druck. Sind sie mittlerweile zu unverbindlichen Programmsätzen verkommen?
Türk: Seit 1948 haben wir viel erreicht auf internationaler Ebene. Die allermeisten, wenn nicht gar alle der in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung verbürgten Rechte sind heute von der Staatengemeinschaft als verbindliches Völkergewohnheitsrecht anerkannt. Zudem hat jeder Staat gleich mehrere der neun grundlegenden Menschenrechtsübereinkommen ratifiziert und ist damit umfangreiche völkervertragsrechtliche Verpflichtungen eingegangen. Deutschland hat alle ratifiziert, mit Ausnahme des Übereinkommens zum Schutz von Migranten. Natürlich bedeutet Rechtsverpflichtung nicht gleich Rechtsumsetzung oder -durchsetzung. Besonders seitens nationaler Regierungen und Behörden braucht es beharrliche Anstrengungen, um Menschenrechte zu verwirklichen. Letztlich kommt es auch auf den individuellen Einsatz an. Gerade auch engagierte und prinzipientreue Politikerinnen, Anwälte, Richterinnen und Verwaltungsbeamte sind unentbehrlich, um den vollen Schutz der Menschenrechte sicherzustellen.
NJW: Sollten sie denn dann zumindest, wie immer wieder gefordert, aktualisiert werden?
Türk: Das Menschenrechtssystem kann in Einzelbereichen sinnvoll erweitert werden. So hat die Generalversammlung vor drei Jahren endlich ein Menschenrecht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt anerkannt; wichtig auch für die Rechte künftiger Generationen. Aber ich warne dringend vor einer Revision bestehender Menschenrechtsübereinkommen, die in der gegenwärtigen Weltsituation leicht zum Aufweichen geltender Standards führen könnte. Stattdessen braucht es engagierte Juristinnen und Juristen, die Normen dynamisch interpretieren, um das bestehende Regelwerk schutzorientiert auf sich rasant wandelnde Realitäten anzuwenden. Im Bereich der Digitalisierung bin ich in diesem Zusammenhang im Gespräch mit Entscheidungsträgern im Silicon Valley. Da geht es um fundamentale Menschenrechtsfragen, unter anderem im Hinblick auf Privatsphäre, informationelle Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit.
NJW: Lassen Sie uns zum Abschluss noch über die Lage der Menschenrechte in Deutschland sprechen. Hatten Sie schon mal Grund zu Beanstandungen?
Türk: Kein Land dieser Welt ist ohne menschenrechtliche Herausforderungen, auch die hochentwickelten Staaten nicht. Ich war schon mehrfach als Hochkommissar in Deutschland, um Gespräche auf höchster Ebene zu führen. Und Deutschland steht in einem noch breiteren Dialog mit dem gesamten UNO-Menschenrechtssystem. Die jüngsten Deutschlandberichte der Expertenausschüsse betreffen zum Teil auch das Rechts- und Justizwesen. Dieser Austausch stärkt den Menschenrechtsschutz in Deutschland und erlaubt den UNO-Experten zugleich, gute Rechts- und Verwaltungspraktiken zu erfassen, die anderen Ländern ein Vorbild sein können.
Der österreichische Jurist Dr. Volker Türk studierte Jura an der Universität Linz. Die Universität Wien promovierte ihn mit einer Arbeit über das UN-Flüchtlingshochkommissariat und dessen Mandat. Seit 1991 ist er in verschiedenen Funktionen bei der UNO tätig. Am 8.9.2022 wurde er zum Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte ernannt.
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