NJW: Die DIHK begründet die Gründung ihres Schiedsgerichtshofs (SGH) unter anderem mit einer Stärkung des Schiedsgerichtsstandorts Deutschland. Warum ist die aus Ihrer Sicht nötig?
Wernicke: Deutschland liegt als Standort für Schiedsverfahren, aber auch insgesamt in der außergerichtlichen Streitbeilegung im internationalen und im europäischen Vergleich leider auf den hinteren Rängen. Das spiegelt weder unsere Wirtschaftskraft, die Exportstärke noch die internationale Verflechtung wider. Hinzu kommt ein in den letzten Jahren stark gewachsenes Bedürfnis nach attraktiven Verfahren auch für kleine und mittlere Unternehmen. Es ist an der Zeit für neue Optionen. Auch deshalb hat der Bundesgesetzgeber bereits 2021 im IHKG den ausdrücklichen Auftrag an die IHK-Organisation verankert, sich der außergerichtlichen Streitbeilegung als originärer und traditioneller Aufgabe anzunehmen.
NJW: Was deckt der SGH ab, was die Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) nicht kann?
Wernicke: Die DIHK war 1992 eine der Gründerinnen der DIS; wir haben den Deutschen Ausschuss für Schiedsgerichtswesen, der die Schiedsgerichtsbarkeit in Deutschland getragen hat, mit eingebracht und den Aufbau der DIS damals finanziert. Diese hat seitdem große Verdienste um die Schiedsgerichtsbarkeit am Standort Deutschland. Worauf es aber nun ankommt, ist zweierlei: Zum einen wollen wir die Perspektive der nachfragenden Unternehmen stärker berücksichtigen, indem wir auf die gesamte Breite der Angebote der außergerichtlichen Streitbeilegung aufmerksam machen und diese attraktiv gestalten. In der IHK-Organisation betrifft das auch die Wirtschaftsmediation und die Einigungsstellen im Wettbewerbsrecht sowie natürlich die Streitentscheidung über Schiedsgutachten, erstellt von unseren durch die IHKs öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen. Dieses Zusammenspiel von Experten, Juristen und Unternehmen ist einzigartig. Und zum anderen geht es um die Kraft einer großen Organisation: Die DIHK koordiniert das weltweit einzigartige internationale Netzwerk der Auslandshandelskammern, mit 150 Standorten in 93 Ländern. Und viele der 79 IHKs sind in der außergerichtlichen Streitbeilegung seit Jahrzehnten, teilweise sogar Jahrhunderten aktiv, bislang häufig im Hintergrund. Das soll nun sichtbar werden unter dem Dach des SGH.
NJW: Zur SGH-Gründung heißt es außerdem, Unternehmen suchten nach einer kompetenten und wirtschaftsnahen Alternative zu Zivilprozessen, die vor den Kammern für Handelssachen verhandelt werden. Bieten nicht genau das auch die neuen Commercial Courts bzw. Chambers?
Wernicke: Die Reformen des Justizstandorts sind ein wichtiger erster Schritt. Die Modernisierung der Kammern für Handelssachen steht noch aus, ist aber auf dem Weg. Commercial Courts sind ebenso wie die internationalen Kammern bzw. Commercial Chambers beim Landgericht für die Unternehmen eine gute Alternative am Markt. Es hängt aber von den Gegebenheiten des Einzelfalls ab, ob sie hinreichend attraktiv sind. Bei den Commercial Courts liegt zum Beispiel der Mindeststreitwert mit 500.000 EUR sehr hoch Ich erwarte daher letztlich eher wenig Fälle, wie auch die sehr geringen Fallzahlen der neuen Commercial Courts im Ausland sogar ohne Streitwertgrenze zeigen. Ausschlaggebend werden für die Unternehmen immer die Kosten, die Dauer und die Qualität der Entscheidungen sein. Hier bietet der SGH gerade auch für KMU verlässliche und kalkulierbare Angebote. Bei grenzüberschreitenden Geschäften kommt hinzu, dass Schiedssprüche anders als Urteile der Commercial Courts nahezu weltweit vollstreckbar sind.
NJW: Können Sie kurz den SGH und das Verfahren dort erläutern?
Wernicke: Das Verfahren bietet für keinen Anwalt Überraschungen. Die Schiedsordnung ist lediglich stark auf mittlere Streitwerte bis 250.000 EUR hin optimiert, etwa indem hierfür ein Einzelschiedsrichter die Regel darstellt, sowie durch die administrative Unterstützung durch den SGH. Diese Begleitung war gerade den kleinen und mittelständischen Unternehmen wichtig. Neu ist lediglich die verbindliche Nutzung einer digitalen Verfahrensplattform: Diese hat zum Ziel, nicht nur für alle Beteiligten eine volldigitale Prozessführung und Administration nach höchsten Standards der Cybersecurity zu ermöglichen, sondern vor allem auch das Verfahren zu beschleunigen. Und nicht zuletzt sind wir damit auch entwicklungsoffen für Optionen eines Basisdokuments sowie zukünftiger KI-Lösungen. Details dazu finden sich auf der Webseite www.schiedsgerichtshof.de.
NJW: Ihre Initiative fällt in eine Zeit, in der intensiv über eine Reform des in die Jahre gekommenen Schiedsverfahrensrechts diskutiert wird. Der Bundestag hatte bereits einen Entwurf vorliegen. Wie beurteilen Sie die Reform, was wäre in der kommenden Legislatur zu verbessern?
Wernicke: Der Entwurf zur Modernisierung des Schiedsverfahrensrechts war nach über 20 Jahren Vorarbeiten überfällig und ist gut gelungen. Dazu gehören nicht nur die Digitalisierung, die Verwendung der englischen Sprache sowie viele Detailregelungen, zum Beispiel zu Sondervoten. Wir werden dafür werben, dass er in ähnlicher Form auch in der neuen Legislatur vorgelegt wird. Wichtig ist dabei auch das rechtspolitische Signal: Die Bundesrepublik strebt wieder an, ein moderner wettbewerbsfähiger Schiedsstandort zu sein, und entwickelt das Recht entsprechend weiter. Dieses Signal muss dringend auch in Richtung der EU gesandt werden, die vielfach als Risiko für den Streitbeilegungsstandort Europa wahrgenommen wird, nicht nur in der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit. Für die Zukunft ist für die Unternehmen vor allem die Kohärenz der vielen Reformen wichtig: Justiz und außergerichtliche Streitbeilegung sind komplementär, man sollte sie nicht gegeneinander ausspielen.
NJW: Liegt es nicht auch im Interesse der Wirtschaft, dass staatliche Gerichte durch Entscheidungen über offene Rechtsfragen für Rechtssicherheit sorgen?
Wernicke: So ist es. Aber das darf den Unternehmen nicht die Option nehmen, ihre Streitigkeiten auch privatautonom außergerichtlich zu lösen. Von daher sollten wir statt des Lamentos über die vermeintliche Abwanderung zur Schiedsgerichtsbarkeit, die übrigens den dramatischen Rückgang der Fallzahlen in der Zivilgerichtsbarkeit keineswegs erklärt, in der Zukunft eher über innovative Ansätze nachdenken. Dazu gehört auch, den Schiedsgerichten in Deutschland und auch in der EU in bestimmten Fällen die Vorlage von entscheidungserheblichen Fragen an den BGH oder den EuGH zu ermöglichen. Rechtseinheit entsteht nicht durch Ausgrenzung.
NJW: Welche Relevanz hat die Schiedsgerichtsbarkeit aus Ihrer Sicht für den Wirtschafts- und Rechtsstandort Deutschland und Europa?
Wernicke: Recht ist ein Standortfaktor. Das wissen sowohl Bundesregierung als auch EU-Kommission. Schon jetzt nehmen auch wegen der Überregulierung die ausländischen Direktinvestitionen ab. Die EU plant wegen der engen Verbindung von Wirtschaft und Recht zu Recht eine Konsultation unter dem Titel „Justice for Growth“. Auch Kollektive bzw. Massenfälle erfordern neue Handlungsoptionen, nicht zuletzt bei der Finanzierung. Schließlich schreitet die sogenannte „Privatisierung des Rechts“ durch Legal Tech und KI schnell voran. Sie sehen: Die Zeichen der Zeit stehen alle auf der Weiterentwicklung der alternativen Streitbeilegung. Sie ist eine Option in allen Fällen, in denen der Markt es erfordert. Recht ist eben auch eine Dienstleistung. Und Deutschland hat im Wirtschaftsrecht mit der kompetenten Anwaltschaft, der in Teilen spezialisierten Justiz und der IHK-Organisation als Vertreterin der gewerblichen Wirtschaft alle Voraussetzungen, sich national und international besser aufzustellen. Weltweit besteht ein großes, aber auch gefährdetes Vertrauen in die Qualität des Rechts in Deutschland: Es gilt, diesen Standortvorteil zu bewahren und jetzt zu nutzen.
Prof. Dr. Stephan Wernicke ist Chefjustiziar bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK). Zugleich ist er Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin für Europarecht, Europäisches Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht. Zuvor war er Mitglied des Kabinetts von EU-Kommissar Günter Verheugen und des deutschen Richterkabinetts am EuGH.
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