Interview

Kämpfer für Rechtsstaatlichkeit
Interview
© Katja Kuhl

An der Spitze des Deutschen Anwaltvereins (DAV) hat es einen Wechsel gegeben: Der auf Verfahren vor dem BVerfG und dem EGMR spezialisierte Rechtsanwalt Stefan von Raumer hat Edith Kindermann als Präsident abgelöst. Wir sprachen mit ihm über seine Ziele und sein Berufsleben.

20. Mrz 2025

NJW: Welche Pläne haben Sie in Ihrer neuen Position für den DAV?

von Raumer: Zunächst: Auch die rechtspolitische Ausrichtung des Verbands ist Teamwork und erfolgt unter Einbeziehung der Vereinsorgane, an deren Spitze neben dem Präsidenten Vorstand, Präsidium und Mitgliederversammlung stehen. Im Fokus des DAV stand und steht der Einsatz für die gerade immer wieder unter Druck stehende Rechtsstaatlichkeit, den effektiven Schutz der Bürgerrechte – auch und gerade durch effektiven Zugang zum Recht über eine freie und unabhängige Anwaltschaft sowie die Sicherung einer modernen, funktionsfähigen und unabhängigen Justiz.

NJW: Die Zahl der DAV-Mitglieder ist rückläufig, und es gab auch immer wieder Kritik an der Ausrichtung des Verbands sowie der internen Kommunikation und Beteiligung etwa von Arbeitsgemeinschaften. Wie wollen Sie darauf reagieren?

von Raumer: Mitglieder im DAV sind die 240 deutschen örtlichen Anwalt- sowie 13 Auslandsvereine – diese Zahl ist stabil. Rückläufig sind die Zahlen der Anwältinnen und Anwälte, die Mitglied in einem örtlichen Verein sind. Diese Entwicklung entspricht den allgemeinen Rückgängen bei den Anwaltszulassungszahlen. Natürlich war und ist Mitgliedergewinnung aber ein wichtiges Thema. Ich freue mich erst einmal, mich jetzt bei der Führung eines starken und gut organisierten Berufsverbands einbringen zu können. Die DAV-Familie besteht aus einer Vielzahl an Engagierten: kleine und große örtliche Vereine, die Landesverbände, die Gesetzgebungsausschüsse, die Arbeitsgemeinschaften, das Forum Junge Anwaltschaft und das Forum für Wirtschaftskanzleien, Vorstand, Präsidium und Geschäftsstelle. Eins eint uns alle: Der Einsatz für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte, das Einstehen für wichtige Zukunftsthemen wie Digitalisierung, KI und natürlich auch Nachwuchsgewinnung. Konstruktive Kritik zur internen Kommunikation zwischen all diesen wichtigen Mitspielern im Verein, aber ebenso zur Ausrichtung des Vereins höre ich mir immer an. Dabei, diesen tollen Verein noch weiter zukunftsfest zu machen, sind konstruktive Vorschläge aus deren Reihen, aber auch Erfahrungen und Ideen aus anderen europäischen Verbänden, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie wir, immer hilfreich und willkommen.

NJW: Müssen Sie als Berufsverband mehr für die Nachwuchsgewinnung tun?

von Raumer: Wir sind bereits heute sehr aktiv in der Nachwuchsarbeit: Der DAV und seine Mitgliedsvereine setzen mit dem Projekt „Anwaltschaft macht Schule“ schon bei Schülerinnen und Schülern an. Für Studierende haben wir jüngst das Netzwerk JurFuture geschaffen, das eng mit den örtlichen Anwaltvereinen und dem Forum Junge Anwaltschaft für Referendarinnen und Referendare sowie Berufseinsteiger verzahnt ist. Wir schaffen gezielt neue Angebote für den Nachwuchs, auch mit Veranstaltungen wie dem Associate Summit oder Vielfaltstagen; teils vom DAV, aber gleichfalls von Mitgliedsvereinen organisiert. Erst im Februar haben wir mit dem ausgebuchten KI-Forum im DAV-Haus einen Schwerpunkt auf Zukunftsthemen gelegt. Diese Bemühungen wollen wir aufrechterhalten und ausweiten.

NJW: Was die Außenwirkung angeht: Wollen Sie eher einen rechts- oder einen berufspolitischen Schwerpunkt setzen? Ihre Vorgänger waren da ja durchaus unterschiedlich ausgerichtet.

von Raumer: Beides sind wichtige Schwerpunkte des DAV. Angesichts der derzeitigen politischen Herausforderungen wird der DAV sich in der Rechtspolitik besonders einbringen und sicher immer präsent sein, wenn es um die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit geht. Aber natürlich stehen wir auch vor erheblichen berufspolitischen Herausforderungen wie etwa der Wahrung des anwaltlichen Berufsgeheimnisträgerschutzes zur Gewährleistung eines effektiven Rechtschutzes der Bürger, für den wir immer eintreten werden.

NJW: Diverse Reformen sind ja durch die vorgezogenen Neuwahlen stecken geblieben. Wie ist Ihre Haltung zum DokHVG?

von Raumer: Der DAV hat sich von Anfang an für die audiovisuelle Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung stark gemacht. Der Ist-Zustand ist nicht zeitgemäß und bleibt hinter internationalen Standards zurück. Wenn ich im Gespräch mit Vertretern von Berufsverbänden in anderen Ländern die aktuelle deutsche Rechtslage schildere, ernte ich oft Kopfschütteln. Wir werden uns deshalb weiterhin für eine nachvollziehbare und transparente Protokollierung im Strafprozess einsetzen.

NJW: Sollte man das Fremdbesitzverbot lockern?

von Raumer: Das EuGH-Urteil vom 19.12.​2024 (NJW 2025, 425) zu dieser Thematik bestätigt im Ergebnis, aber auch in seiner Begründung, dass der freie Kapitalverkehr und die Niederlassungsfreiheit im Interesse der anwaltlichen Unabhängigkeit eingeschränkt werden dürfen. Gerade die Begründung der Entscheidung unterstreicht die Bedeutung der anwaltlichen Unabhängigkeit als wichtiges Rechtsgut, für die wir uns stets eingesetzt haben und weiter einsetzen werden.

NJW: Sehen Sie weitere Themen, bei denen es in der Rechtspolitik „brennt“?

von Raumer: Wie wichtig unsere Bemühungen um ein resilienteres Bundesverfassungsgericht waren, zeigt der Konsens aller rechtstaatlichen Parteien, der Ende vergangenen Jahres zu einer entsprechenden Grundgesetzänderung führte. Nun wollen wir daran mitwirken, dass auch die Verfassungsgerichte der Länder, etwa im Fall von Sperrminoritäten, funktionsfähig bleiben. Wir sehen uns auf nationaler und europäischer Ebene schon länger immer wieder mit Vorschlägen für anlasslose Massenüberwachung konfrontiert, sei es die IP-Speicherung, die Chatkontrolle oder Initiativen zur biometrischen Fernüberwachung. Hier setzt sich der DAV auch weiterhin vehement für die Wahrung der Bürgerrechte ein. Auch im Berufsrecht gibt es offene Fragen. Wir brauchen langfristige Lösungen für Sammelanderkonten und die Rechtsanwaltsvergütung. Das beA-Verbot für die Kommunikation mit Finanzbehörden muss gleichfalls schnellstmöglich aufgehoben werden.

NJW: Sie sind nicht der erste Einzelanwalt als Präsident, auch beispielsweise Ihre Vorgängerin war dies. Wie bewältigt man da das zeitfüllende Ehrenamt?

von Raumer: Meine besondere Spezialisierung auf Verfassungsbeschwerden und Individualbeschwerden beimEGMR erlaubt es mir, mich auf eine überschaubare Zahl besonders interessanter Fälle zu konzentrieren. Trotz teils hoher Arbeitsaufwände in jedem dieser Verfahren, die auch einmal Nachtschichten und Wochenenden kosten können, sind diese, gerade bei der Viermonatsfrist der Beschwerde zum EGMR zeitlich gut planbar. Ich habe daneben kaum schnelles und zeitaufwändiges Tagesgeschäft. Das hatte mir auch schon als für Internationales und Europa zuständiger Vizepräsident in den vergangenen Jahren ein hohes zeitliches Engagement für den Verband erlaubt.

NJW: Mit Ihrer Spezialisierung auf Verfahren vor BVerfG und EGMR sind Sie eigentlich kein besonders repräsentativer Vertreter des Berufsstands. Woher kommt Ihre Leidenschaft für diese Themen?

von Raumer: Mein Tagesgeschäft mag nicht besonders repräsentativ für den Berufsstand sein. Andererseits habe ich Fälle aus beinahe allen Rechtsgebieten auf dem Tisch, vom Familienrecht über das Wirtschaftsstrafrecht bis zum Verwaltungs- und Zivilrecht, etwa dem Medienrecht und dem Zwangsvollstreckungsrecht. Das gibt einen interessanten und vertieften Überblick über und Einblick in viele Rechtsgebiete, in denen auch der DAV – etwa mit den Stellungnahmen, die seine Ausschüsse vorbereiten – rechtspolitisch aktiv ist. Es schafft auch ein Verständnis für die Probleme der Anwaltschaft bei den Instanzgerichten mit oft unbefriedigenden gesetzlichen Regelungen oder Rechtspraktiken. Zudem ist der Blick aus einer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Perspektive bei der rechtspolitischen Mitgestaltung von Recht, die zu den Kernkompetenzen des DAV gehören, sehr hilfreich. Wenn man wie ich in so vielen Ländern gearbeitet hat, in denen die Rechtstaatlichkeit verloren gegangen ist oder schwer unter Druck steht oder stand wie Syrien, der Türkei, Aserbaidschan, Albanien oder Polen, dann sieht man, was das mit den Menschen und der Gesellschaft macht, und wird schnell zum überzeugten Verfassungs- und Menschenrechtler.

NJW: Wie kam es eigentlich zu Ihrer Nominierung für das Präsidentenamt? Wurden Sie dafür ausgeguckt, oder haben Sie auch selbst in dieses Amt gestrebt?

von Raumer: Ich habe mich schlicht immer mit großer Leidenschaft auf inhaltliche Aufgabenstellungen gestürzt, die ich spannend fand, und was dann auf mich zukam, gerne, engagiert und deswegen wohl auch ganz gut gemacht. Und dann wurde ich eben gefragt, ob ich nicht noch dieses und jenes machen könnte – und wenn das spannend klang, habe ich Ja gesagt. Als ich über den damaligen DAV-Präsidenten Hartmut Kilger 2008 die Chance erhielt, mich im neugegründeten Menschenrechtsausschuss zu engagieren, hätte ich nicht gedacht, dass mir 2025 der Vorstand des DAV sein Vertrauen für die Präsidentschaft ausspricht.

NJW: Gibt es zum Ausgleich für Hauptberuf und Ehrenamt Hobbys? Darf man fragen, ob Sie Familie haben?

von Raumer: Meine Freizeit verbringe ich sportlich gerne mit Langstreckenschwimmen, am liebsten im Meer, und Rennradfahren. Ich liebe aber auch lange Abende mit meiner Lebensgefährtin in der schönen Berliner Gastronomieszene. Mit ihr lebe ich seit etwas mehr als zehn Jahren in einer Patchworkfamilie mit insgesamt drei, inzwischen erwachsenen Kindern. Zu wenig Zeit blieb mir in den letzten Jahren für meine modernen Gemälde und Collagen, die aber immerhin die Wände meiner Kanzlei zieren, und meine – bis auf einige Lesungen unveröffentlichten – Kurzgeschichten.

NJW: Hat Ihr Weg direkt in den Anwaltsberuf geführt?

von Raumer: Nach dem Ersten Staatsexamen hatte ich in Erwägung gezogen, den direkten Weg in den diplomatischen Dienst zu suchen. Die Leidenschaft für den Anwaltsberuf hat mich dann mit der ersten praktischen anwaltlichen Tätigkeit ereilt, konkret in einem Nebenjob in meiner Referendarzeit bei einem auf Restitutions- und Entschädigungsrecht spezialisierten Rechtsanwalt in einer Düsseldorfer Anwaltskanzlei, die mich dann gleich nach dem Zweiten Staatsexamen angestellt hat. Auf dessen Initiative habe ich dann auch meine ersten Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerden im Recht der offenen Vermögensfragen geschrieben, nachdem er mein Talent für Grundsatzfragen entdeckt und gefördert hatte. 

Im Jurastudium in Freiburg hatte Stefan von Raumer den Schwerpunkt Internationales und Völkerrecht. Zusätzlich zum Referendariat absolvierte er ein Postgraduiertenstudium an der Verwaltungshochschule Speyer. Nach der Tätigkeit in zwei Sozietäten in Düsseldorf und Hamburg gründete er 2001 in Berlin seine eigene Kanzlei. Seit 2021 einer der DAV-Vizepräsidenten, wurde er in diesem Februar ganz an die Spitze gewählt. Er übt zahlreiche Funktionen dort sowie in internationalen Anwaltsorganisationen aus.

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Interview: Joachim Jahn.