Interview

„Die Einzelfallgerechtigkeit wird geopfert“
Interview

Deutsche Gerichte entscheiden grenzüberschreitende Fälle nicht notwendigerweise nach hiesigem Recht. Das Internationale Privatrecht kann vielmehr die Anwendung ausländischen Rechts vorgeben, was insbesondere beim Zusammentreffen mit islamischen Jurisdiktionen zu Konflikten führen kann. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Lukas Rademacher.

12. Mrz 2025

NJW: Wann wenden deutsche Gerichte ausländisches Privatrecht an?

Rademacher: Wenn die Vorschriften des Internationalen Privatrechts – kurz: IPR – dies vorgeben. Im Ausgangspunkt ist das IPR entgegen seinem Namen nationales Recht: Jeder Staat hat sein eigenes IPR. In Deutschland sind wichtige Bereiche davon weiterhin im EGBGB geregelt. Teilweise existierten Staatsverträge, die das anwendbare Recht bestimmen. Im Schuldrecht und Erbrecht sowie in weiten Teilen des Familienrechts ist das IPR heute in europäischen Verordnungen niedergelegt und dadurch EU-weit harmonisiert. Das IPR wird auch als Rechtsanwendungsrecht oder als Kollisionsrecht bezeichnet, weil es für Sachverhalte mit Auslandsbezug die Kollision mehrerer um Anwendung ringender Rechtsordnungen auflöst.

NJW: Wie bestimmt das IPR das anwendbare Recht?

Rademacher: Das IPR sucht nach der engsten Verbindung eines Sachverhalts zu einer Rechtsordnung. Dazu legen dessen Vorschriften für einzelne Fragen Anknüpfungsmomente fest. Dies sind typisierende Merkmale, anhand derer das anwendbare materielle Recht zu ermitteln ist. Beispielsweise kommt es für das Erbrecht auf das Recht an dem Ort des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers an. Für die Eheschließungsvoraussetzungen wird auf das Recht der Staatsangehörigkeit der Verlobten abgestellt.

NJW: In welchen Fällen führt das besonders häufig zu Konflikten mit dem deutschen Rechtsverständnis?

Rademacher: Im Familien- und Erbrecht kommen kulturell-religiös geprägte Vorstellungen häufiger zum Ausdruck als etwa im Vertrags- oder Sachenrecht. Widersprüche zur inländischen Werteordnung können beispielsweise zutage treten, wenn deutsche Gerichte das Eherecht von Staaten anzuwenden haben, die keine Scheidung vorsehen, wie es heute nur noch auf den Philippinen und im Vatikan der Fall ist. Ein anderes Beispiel betrifft das israelische Recht, das nur Männern eine einseitige Scheidungsmöglichkeit eröffnet. Die Migrationsbewegungen der vergangenen Jahre haben indes zu einer besonderen Relevanz und Aktualität von Fragen geführt, die mit der Anwendung islamisch geprägten Rechts verbunden sind.

NJW: Welche Beispiele sind da zu nennen?

Rademacher: Die Gerichte und der Gesetzgeber haben sich zuletzt vielfach mit der Ehemündigkeit befasst, die in manchen Rechtsordnungen bereits im Kindesalter beginnen kann. Sollen nach ausländischem Recht wirksam geschlossene Ehen mit Minderjährigen in Deutschland anerkannt werden? Vergleichbare Fragen stellen sich für polygame Ehen, die in manchen Rechtsordnungen zulässig sind. Zudem kennt das Scheidungsrecht von islamisch geprägten Staaten das einseitige Recht des Ehemanns, die Ehe zu beenden. Im Erbrecht ist teilweise eine Benachteiligung weiblicher Erben zu beobachten, deren Anteil an der Erbschaft nur die Hälfte des Erbteils männlicher Miterben beträgt.

NJW: Wo verläuft die Grenze für die Anerkennung fremden Rechts?

Rademacher: Das klassische Instrument, um die Anwendung ausländischen Rechts zu begrenzen, ist der Abgleich mit dem Kernbestand des inländischen Rechts. Das IPR erlaubt sich zwar kein Werturteil über das ausländische Recht. Eine dortige Regelung ist aber nicht anzuwenden, wenn dies zu einem Ergebnis führte, das mit wesentlichen Grundsätzen des inländischen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Dies gilt insbesondere, wenn die Anwendung des Auslandsrechts in einer Grundrechtsverletzung – etwa einem Gleichheitsverstoß – resultierte. Gegenstand dieser sogenannten ordre-public-Prüfung ist damit allein, ob das inländische Gericht mit seiner Entscheidung – also einem inländischen Hoheitsakt – grundlegende Wertvorstellungen des inländischen Rechts einschließlich der Grundrechte der Betroffenen verletzen würde.

NJW: Wie strikt ist dann die Grenzziehung?

Rademacher: Die ordre-public-Prüfung ist ein flexibles Instrument. Sie erlaubt, die Besonderheiten des Einzelfalls, aber auch das rechtliche Umfeld der streitentscheidenden Vorschriften des ausländischen Rechts zu berücksichtigen. Um ein Beispiel zu nennen: Bei geschlechtsabhängigen Erbquoten kann trotz des damit verbundenen Gleichheitsverstoßes die Anwendung des ausländischen Rechts im Ergebnis hinzunehmen sein, wenn dort die gleichheitswidrige Benachteiligung der erbberechtigten Frau auf anderem Wege kompensiert wird – etwa durch ein neben dem Erbrecht bestehendes Pflichtteilsrecht oder anderweitige Ansprüche gegen den Erben zur Unterhaltssicherung. Zudem kann in die Prüfung einfließen, ob das deutsche materielle Erbrecht eine entsprechende testamentarische Gestaltung zuließe oder das Pflichtteilsrecht dem entgegenstünde. Auch bei Minderjährigenehen fand bis zum Jahr 2017 eine gerichtliche Einzelfallprüfung statt.

NJW: Haben deutsche Gerichte denn solche Ehen anerkannt?

Rademacher: In aller Regel aus gutem Grund nicht. Seltene Ausnahmefälle kamen in Betracht, wenn die betroffenen Personen inzwischen volljährig geworden waren und im Erwachsenenalter an der Ehe festgehalten haben. Zudem konnte in die Beurteilung einfließen, ob aus der Partnerschaft Kinder hervorgegangen warenund der Fortbestand der Ehe dem Kindeswohl entsprach.

NJW: Was hat sich seit 2017 geändert?

Rademacher: Der Gesetzgeber hat das „Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen“ erlassen. Es setzt die Ehemündigkeitsgrenze des deutschen Eheschließungsrechts auch in Fällen mit Auslandsbezug ausnahmslos und ohne Einzelfallprüfung durch. Das BVerfG hat das Gesetz zwar im Jahr 2023 nach einer Vorlage durch den BGH teilweise für verfassungswidrig erklärt, jedoch lediglich in Bezug auf das Fehlen angemessener Regeln für die Rechtsfolgen der durch das Gesetz ausgelösten Eheunwirksamkeit. Insoweit hat der Gesetzgeber inzwischen nachgebessert und Mitte des Jahres 2024 § 1305 BGB erlassen, der unter anderem dem Minderjährigen bei unwirksamer Ehe einen Unterhaltsanspruch gegen den anderen Teil zuspricht und eine Heilungsmöglichkeit für unwirksame Minderjährigenehen vorsieht.

NJW: Abschließend: Wie tolerant ist das IPR gegenüber anderen Rechtsordnungen, und hat sich dies aus Ihrer Sicht in die richtige Richtung entwickelt?

Rademacher: Insgesamt hat die Toleranzleistung des IPR nachgelassen. Das hängt einerseits mit dem Wandel der Anknüpfungsmomente im internationalen Familien- und Erbrecht zusammen. Die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit hat heute nur noch für wenige Fragen wie die Eheschließung Bedeutung. Sie wurde weitgehend von der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt, also an den Lebensmittelpunkt der betroffenen Personen, verdrängt. Daher müssen deutsche Gerichte seltener ausländisches Recht anwenden. Denn wenn die beteiligten Personen ihren Wohnsitz in Deutschland haben, findet unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit für viele Fragen ohnehin deutsches Recht Anwendung – die Toleranz wird gar nicht erst auf die Probe gestellt. Zudem ist die Tendenz zu beobachten, die einzelfallorientierte Prüfung durch die Gerichte im Rahmen der ordre-public-Kontrolle durch gesetzlich angeordnete Pauschallösungen zugunsten der inländischen Wertungen zu ersetzen. Dadurch bringt der Gesetzgeber ein Misstrauen gegenüber den Gerichten zum Ausdruck, für das diese keinen Anlass geboten haben. Gerade auf dem sensiblen Gebiet des internationalen Familien- und Erbrechts kann es nicht überzeugen, die Einzelfallgerechtigkeit zugunsten rigoroser Pauschallösungen zu opfern. 

Prof. Dr. Lukas Rademacher hat in Düsseldorf und Oxford studiert. Nach dem Referendariat wurde er 2016 am Institut für Rechtsgeschichte der Universität Münster mit einer vergleichenden Arbeit zum Verkehrsschutz im englischen Privatrecht promoviert. Im Jahr 2022 habilitierte er sich am Institut für internationales und ausländisches Privatrecht der Universität Köln. Seit Februar 2023 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung der Universität Kiel sowie Co-Direktor des Instituts für Europäisches und Internationales Privat- und Verfahrensrecht.

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Interview: Joachim Jahn.