Interview
„Rechtsanwälte als Täter“
Interview

Während der NS-Herrschaft von 1933 bis 1945 wurden zahlreiche jüdische Anwältinnen und Anwälte entrechtet, verfolgt und ermordet. Heute steht fest, dass die Reichs-Rechtsanwaltskammer, die Rechtsvorgängerin der BRAK, einen erheblichen Anteil daran hatte, dass in dieser Zeit über 25 % der damaligen Anwaltschaft dem Nazi-Terror zum Opfer fiel. 

8. Jan 2025

Doch welche Rolle haben die Kammer und ihre Verantwortlichen dabei genau gespielt? Dieser Frage geht eine im Auftrag der BRAK erstellte Untersuchung von Prof. Dr. Frank L. Schäfer nach, die die Rolle der Anwaltschaft auf der Täterseite ans Licht bringt.

NJW: Sie schreiben in Ihrem Vorwort, die Reichs-Rechtsanwaltskammer (RRAK) habe bislang nicht im Fokus der Forschung zur juristischen Zeitgeschichte gestanden, obwohl ihre ambivalente Rolle, die sie während der NS-Zeit gespielt hat, bekannt war. Warum hat man, allen voran die BRAK, sich dafür augenscheinlich so wenig interessiert?

Schäfer: Das Bundesarchiv enthält unter der Signatur der RRAK nur wenige Akten zu ihrer Steuerstelle. Alle anderen von der RRAK aufbewahrten Akten verbrannten 1943 bei einem Bombenangriff. Daher war auf einen ersten Blick nicht genügend Material für eine Studie vorhanden. Ekkehart Schäfer, Altpräsident der BRAK, wollte sich mit diesem Befund nicht zufriedengeben. Auf seine Initiative hin ermittelte ich nach dem Vorbild der Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, inwiefern sich Dubletten der fehlenden Akten in anderen Provenienzen des Bundesarchivs und in Landesarchiven befinden. Das Suchergebnis widerlegte die Vermutung, dass sich die Geschichte der RRAK nicht rekonstruieren lässt.

NJW: Was können Sie uns zur Bedeutung und Funktion der RRAK für die Anwaltschaft während der NS-Herrschaft sagen? Insbesondere: Wie funktionierte anwaltliche Selbstverwaltung in einer Diktatur?

Schäfer: Die RRAK war keine öffentlich-rechtliche Körperschaft zur anwaltlichen Selbstverwaltung, sondern diente der nationalsozialistischen Diktatur als Mittel, die Anwaltschaft zu kontrollieren und die Rassenideologie gegenüber der jüdischen Anwaltschaft durchzusetzen. Präsident Reinhard Neubert herrschte spätestens mit der Kodifikation des Führerprinzips zum Jahreswechsel 1935/36 unumschränkt über die Kammer. Er verstand sich im Zweifel nicht als Sachwalter anwaltlicher Interessen, sondern als Erfüllungsgehilfe des nationalsozialistischen Staats.

NJW: Wie war die RRAK in die Organisation des NS-Staats eingebunden?

Schäfer: Sie war einerseits der Fachaufsicht und Personalhoheit des Reichsjustizministeriums unterstellt. Sachlich, wenn auch nicht rechtlich, wirkte die RRAK damit als eine dem Ministerium untergeordnete Reichsbehörde. Andererseits beanspruchte der NS-Rechtswahrerbund unter Reichsrechtsführer Frank, der Neubert feindselig gegenüberstand, den Vorrang bei der Reform des Anwaltsberufs. Die RRAK musste daher in der nationalsozialistischen Polykratie zwei Herren gleichzeitig dienen. Das schwächte die Stellung der Kammer erheblich.

NJW: Inwiefern hat sie sich mit dem Parteiprogramm der NSDAP identifiziert bzw. diesem untergeordnet?

Schäfer: Präsident und Präsidium der RRAK traten aus voller Überzeugung für die nationalsozialistische Weltanschauung ein. Mit Ausnahme von Schatzmeister Werner Ranz waren alle führenden Funktionäre vor 1933 in die NSDAP eingetreten.

NJW: Auch zur Beseitigung der freien Advokatur hat die RRAK ihren Teil beigetragen. Inwiefern?

Schäfer: Sie setzte die Einführung eines Probe- und Anwärterdienstes nach dem Assessorexamen und somit de facto einen numerus clausus für die Anwaltszulassung durch. Der Ehrengerichtshof der RRAK und die von ihr erlassenen neuen Standesrichtlinien pönalisierten jedes anwaltliche Verhalten, das vom Nationalsozialismus abwich. Mit diesen und weiteren Maßnahmen verwandelte die Kammer die freie in eine staatlich gebundene Advokatur. Die 1943 angeordnete Zwangspensionierung und die Unterwerfung der Anwaltschaft unter die staatlichen Dienststrafgerichte geschah allerdings gegen den Willen der RRAK.

NJW: Welchen Anteil hatte die Kammer an der Entrechtung, Verfolgung und Ermordung jüdischer Anwälte und Anwältinnen? Oder anders formuliert: Wie hat sie dazu beigetragen?

Schäfer: Neubert und sein Präsidium waren mit Ausnahme von Rüdiger Graf von der Goltz durchweg exponierte Antisemiten, die den politischen Grundsatzentscheidungen stets vorauseilten und wesentlich zur Radikalisierung der antisemitischen Maßnahmen beitrugen. Bereits 1933 legte die RRAK einen Entwurf vor, welcher das Rechtsberatungsgesetz vom Dezember 1935 vorwegnahm. Dasselbe Muster zeigt sich dann beim Ausschluss der restlichen jüdischen Anwälte und von Hanna Katz als einzig verbliebener jüdischer Anwältin aus der Anwaltschaft. Ebenso stand die RRAK während des Krieges dem Schicksal der verbliebenen jüdischen Konsulenten teilnahmslos gegenüber. Trotzdem gelang es der Kammer nicht, alles Jüdische auszulöschen. Der in Weimar vor allem von Anwälten jüdischer Herkunft entworfene Plan einer demokratischen Reichsanwaltskammer wurde 1959 in Gestalt der BRAK realisiert – mit Florian Waldeck an der Spitze, ebenfalls ein Anwalt jüdischer Herkunft.

NJW: Regte sich dagegen zu keinem Zeitpunkt Widerstand?

Schäfer: Die leise vorgetragene Kritik am Rechtsanwaltszulassungsgesetz vom 7.4.​1933 war bei Errichtung der RRAK bereits verstummt. In der Folgezeit waren sich alle Funktionäre grundsätzlich über das Ziel einig, die jüdische Anwaltschaft vollständig zu entrechten. Graf von der Goltz bewegte sich während des Krieges zwar aus familiären Gründen im Umkreis des Widerstands, als designierter Richter am Volksgerichtshof war er aber gewiss kein Widerstandskämpfer.

NJW: Sie gehen in Ihrer Untersuchung noch einen Schritt weiter und bezeichnen die RRAK als Helferin für Hitlers Angriffskrieg. Das müssen Sie uns erläutern.

Schäfer: Neubert wollte sich bereits im Juli 1939 für den geplanten Angriffskrieg diktatorische Vollmachten über die RRAK verschaffen. Nach Kriegsbeginn profitierte die RRAK von den in den annektierten Gebieten gegründeten deutschen Anwaltskammern, indem sie sich diese organisatorisch einverleibte. Ebenso half die RRAK bereitwillig, Anwälte als Richter und Verwaltungsbeamte in den annektierten und besetzten Gebieten zu vermitteln.

NJW: Wie ging es für die Funktionäre, soweit sie nicht gefallen waren, nach 1945 weiter? Insbesondere: Haben sie Funktionen und Aufgaben innerhalb der BRAK bzw. den regionalen Anwaltskammern übernommen?

Schäfer: Sie mussten sich alle dem Entnazifizierungsverfahren unterziehen und erlangten wieder die Anwaltszulassung. Strafrechtlich wurden sie wegen ihrer Funktionärstätigkeit nicht belangt. Präsidiumsmitglied Erwin Noack erreichte in den 1950 er Jahren Prominenz durch die Verteidigung alter und neuer Nationalsozialisten, die anderen ehemaligen Präsidiumsmitglieder blieben in der Öffentlichkeit unauffällig. So übten sie nach 1945 keine Vorstandsämter bei den Kammern mehr aus, ebenso wenig nach derzeitigem Kenntnisstand die weiteren Funktionäre der RRAK. Allerdings übernahm Ranz die Geschäftsführung der wiederbegründeten Hülfskasse Deutscher Rechtsanwälte und Heinrich Megow, Leiter der Steuerstelle der RRAK, die gleichnamige Stelle beim DAV.

NJW: Welche Lehren lassen sich aus dem Versagen der RRAK und ihrer Funktionäre mit Blick auf das Erstarken antidemokratischer Kräfte ziehen?

Schäfer: Die RRAK zeigt die dramatischen Konsequenzen auf, wenn Antidemokraten eine Institution übernehmen und pervertieren. Einmal an der Macht, mäßigen sie sich nicht, sondern radikalisieren sich immer weiter und zerstören damit die Zivilgesellschaft.

Das Jurastudium, den Magister iuris sowie das erste Staatsexamen absolvierte Prof. Dr. Frank L. Schäfer, LL.M. (Cambridge), in Heidelberg; dort wurde er auch promoviert. Seine Habilitation erfolgte an der Goethe-Universität Frankfurt, die ihm die Venia legendi für Bürgerliches Recht, Deutsche Rechtsgeschichte und Privatrechtsgeschichte der Neuzeit verlieh. Sein erster Ruf führte ihn nach Kiel. Seit 2015 ist er Professor in Freiburg i. Br. auf dem Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht sowie Direktor des Instituts für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung (germanistische Abt.).

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Interview: Monika Spiekermann.