Interview
Teures Mittelmaß im Gesundheitssystem
Interview

Deutschland leistet sich ein im internationalen Vergleich teures Gesundheitssystem. Experten warnen bereits seit Jahren vor dessen Kollaps, wenn der Gesetzgeber nicht eingreift. Am 22.11. hat der Bundesrat das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz, das nach dem Ende der Ampel-Koalition auf der Kippe stand, zwar gebilligt; gleichwohl stellt sich die Frage, ob und mit welchen Maßnahmen das Gesundheitssystem noch zu retten ist und was das für die Patientenrechte bedeutet. 

18. Dez 2024

Darüber und über weitere Aspekte haben wir uns mit dem Gesundheitsökonom Prof. Dr. Jonas Schreyögg von der Universität Hamburg unterhalten.

NJW: Wie ist es um unser Gesundheitssystem bestellt? Droht wirklich dessen Kollaps? Und wo sehen Sie die maßgeblichen Gründe für diese Entwicklung?

Schreyögg: Zunächst einmal geben wir in Deutschland pro Kopf so viel Geld für die Gesundheitsversorgung aus, wie in kaum einem Land der Welt. Gleichzeitig ist die Versorgungsqualität, die wir mit diesem Geld hervorbringen, allenfalls durchschnittlich im OECD-Vergleich. Das Kernproblem unseres Gesundheitssystems ist daher nicht die Finanzierung, sondern die ineffiziente Allokation der Ressourcen, so wie wir Ökonomen das nennen. Das heißt, die vorhandenen begrenzten Ressourcen werden nicht so eingesetzt, dass sie den höchstmöglichen Nutzen stiften. Ein Beispiel hierfür ist die Verfügbarkeit von Pflegepersonal in deutschen Krankenhäusern. Deutschland liegt bei der Verfügbarkeit von Pflegepersonal pro Einwohner im OECD-Vergleich über dem Durchschnitt. Bezogen auf das Krankenhausbett liegen wir jedoch deutlich unter dem Durchschnitt, und das, obwohl in den letzten Jahren pflegerisches und ärztliches Personal deutlich aufgebaut wurde. Wir leisten uns also erheblich mehr Betten als andere Staaten, die jedoch personell schlechter ausgestattet sind. Ausstattung ist jedoch mit Qualität korreliert, und das ist das eigentliche Problem.

NJW: Wie ließe sich diese Fehlentwicklung korrigieren?

Schreyögg: Da dem weiteren Aufbau von Personal unter anderem finanziell Grenzen gesetzt sind, sollte die Zahl der Kapazitäten in Krankenhäusern weiter reduziert werden. Bereits seit Jahrzehnten sehen wir eine Reduktion von Krankenhausstandorten. Diese ist in den letzten Jahren nicht wesentlich beschleunigt, sondern nur stärker in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Die meisten der geschlossenen Kliniken sind relativ klein, und oftmals bestand vor der Schließung eine (deutlich) zu geringe Kapazitätsauslastung, teils von 30 – 40 %. Hinzu kommt, dass während der Pandemie offensichtlich in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Bedeutung der Ausstattung/Kompetenz eines Krankenhauses entstanden ist, so dass viele Menschen auf dem Land ihr Krankenhaus um die Ecke zunehmend eher meiden. Die Konsolidierung der Krankenhauslandschaft wird sich in den nächsten Jahren mit und ohne Krankenhausreform im Sinne der Versorgungsqualität fortsetzen. Die Patientenversorgung in Deutschland ist dadurch nicht bedroht. Ich sehe keine Region, in der wir eine systematische Unterversorgung haben.

NJW: Wenn wir Sie richtig verstanden haben, müsste das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz, das der Bundesrat letzten Monat doch noch gebilligt hat, ein Schritt in die richtige Richtung gewesen sein, oder?

Schreyögg: Das grundsätzliche Anliegen der Reform ist richtig. Wir wissen, dass die einseitige Vergütung durch Fallpauschalen Fehlanreize verursacht. Allerdings sehe ich in der Umsetzung noch zahlreiche Schwachstellen, die in den nächsten Monaten, auch in einer neuen Regierung sicherlich weiter bearbeitet werden. So halte ich die Definition von Fachkliniken, für die besondere Ausnahmen gelten, für zu vage. Außerdem sind die so genannten Vorhaltepauschalen, die die Fallpauschalen zumindest zu einem Teil ersetzen sollen, zu starr definiert, da ihr Anteil an der Vergütung für alle identisch ist. Es existiert ja nicht in jeder Fachabteilung eines Krankenhauses ein gleich hohes Erfordernis an Vorhaltung. Eine Fachabteilung, die nur terminbare orthopädische OPs macht, braucht deutlich weniger Vorhaltung als eine Schlaganfalleinheit auf dem Land, die in der Regel nicht ausgelastet sein, aber eben benötigt wird. Hier müsste man mehr differenzieren, um den betroffenen Kliniken zielgerichtet zu helfen. Auch wenn ich Vorhaltepauschalen insgesamt für sinnvoll halte, kann die aktuell vorgeschlagene Konzipierung nur ein erster Schritt sein, die weiterentwickelt werden sollte. Es erscheint sinnvoll, für die künftige Gestaltung bestimmte Eckpunkte zu definieren und deren Ausgestaltung an die gemeinsame Selbstverwaltung zu delegieren.

NJW: Würde sich das auch auf die seit Jahren steigenden Krankenkassenbeiträge auswirken? Oder wo müsste eine Reform ansetzen, um diesen Anstieg zumindest zu verlangsamen?

Schreyögg: Wir sehen besonders starke Anstiege in den Ausgaben für die stationäre Versorgung. Daher sind hier Reformen vordringlich. Ziel muss es vor allem sein, die Belegungstage zu verringern. Wir nehmen in Deutschland erstens zu viele Personen aus den Notaufnahmen auf; die Aufnahmequote liegt bei 46 % und ist damit deutlich höher als anderswo. Zweitens führen wir zu viele terminierbare Operationen stationär durch, die in anderen Ländern längst überwiegend ambulant durchgeführt werden. Wir benötigen also eine Reform der Notfallversorgung, die wir als Sachverständigenrat für Gesundheit & Pflege bereits vor acht Jahren vorgeschlagen haben und die eigentlich im Kern fast identisch bereits schon in drei Legislaturperioden eingeführt werden sollte. Darüber hinaus werden effektive hybride diagnosebezogene Fallgruppen benötigt, die Krankenhäuser incentivieren, OPs ambulant zu erbringen. Die aktuelle Regelung hilft hier nicht weiter.

NJW: In dem Zusammenhang wird immer wieder die Abschaffung der privaten Krankenversicherung zu Gunsten einer Bürgerversicherung gefordert. Zu Recht?

Schreyögg: Würde man ein neues Krankenversicherungssystem losgelöst vom Status quo konzipieren, dann käme kaum jemand auf die Idee, ein duales System von GKV und PKV nebeneinander zu entwickeln. Diese Dualität im Status quo aufzulösen, ist jedoch sehr komplex und teuer. Ich war Teil der Kommission für ein modernes Vergütungssystem in der letzten Legislaturperiode, die hierfür Lösungen entwickeln sollte. Wir haben einen Vorschlag gemacht, aber auch festgestellt, dass es viele Milliarden pro Jahr kosten würde, allein die Vergütung beider Systeme zu harmonisieren. Und damit ist nicht einmal das Problem der zu kompensierenden Altersrückstellungen in den PKV-Verträgen adressiert. Kurz- bis mittelfristig dürfte daher eine Bürgerversicherung nicht finanzierbar sein.

NJW: Andere empfehlen eine höhere Selbstbeteiligung. Sehen Sie da noch Spielraum?

Schreyögg: Wir sind neben Japan weltweit das einzige Gesundheitssystem ohne Selbstbeteiligung in der ambulanten Versorgung. Es gibt zahlreiche Modelle, eine Selbstbeteiligung sozial ausgewogen und versehen mit effektiven Anreizen zur Reduktion nicht notwendiger Arztbesuche einzuführen. Allerdings sehe ich politisch derzeit keine Partei, die in diese Richtung denkt und dies umsetzen könnte.

NJW: Wird unser Gesundheitssystem eigentlich noch dem Versorgungsanspruch der Versicherten gerecht?

Schreyögg: Wir haben im internationalen Vergleich die dritthöchsten Gesundheitsausgaben pro Kopf. Demgegenüber ist die Versorgungsqualität mittelmäßig. Auch im Sinne der Versicherten müssen wir deshalb in den nächsten Jahren vor allem die Koordination verbessern und so Redundanzen abbauen. Ein Beispiel ist eine koordinierte Inanspruchnahme von Notfallleistungen durch integrierte Leitstellen, ein weiteres die derzeit oftmals ungesteuerte Inanspruchnahme von spezialisierten Fachärzten, übrigens auch durch chronisch Erkrankte. Hier müssen wir die Rolle des Hausarztes stärken, etwa auch durch eine finanzielle Incentivierung der Patienten.

NJW: Was bedeutet das für das Solidaritätsprinzip in der Krankenversicherung? Müssen wir uns davon mittel- oder langfristig verabschieden?

Schreyögg: Nein, das steht nicht zu befürchten. Wir haben aber einen enormen Reformstau im Gesundheitswesen und auch deshalb eine sehr ineffiziente Allokation von Ressourcen. Ich hoffe sehr, dass dies in der kommenden Legislaturperiode angegangen wird. Bei vielen Reformen besteht ja sogar fraktionsübergreifend Konsens. Es existieren ausreichend Vorlagen und Konzepte. Aber die Gesetze müssen eben auch parlamentarisch umgesetzt werden.

Seit 2010 ist Prof. Dr. Jonas Schreyögg Inhaber des Lehrstuhls Management im Gesundheitswesen an der Universität Hamburg. Sein Betriebs- und Volkswirtschaftsstudium absolvierte er an der TU Berlin, von der er auch promoviert und habilitiert wurde. Lehr- und Forschungsaufenthalte führten ihn nach Norwegen, Singapur, Taiwan und in die USA.

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Interview: Monika Spiekermann.