Interview
Zug in die Freiheit
Interview
© MSC/Kuhlmann

„Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise möglich geworden ist.“ Mit diesen Worten verkündete der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher die Ausreisegenehmigung für tausende DDR-Flüchtlinge, die im September 1989 in der deutschen Botschaft in Prag ausharrten. Kurz darauf reisten sie mit der Bahn Richtung Westen. Der Diplomat und Jurist Wolfgang Ischinger, damals Genschers persönlicher Referent, hat einen dieser Züge begleitet. Fragen an einen Zeitzeugen.

15. Nov 2024

NJW: Wie stellten sich damals die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ausreise der 4.000 DDR-Bürger aus der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland über das Staatsgebiet der DDR dar? Oder war alles Verhandlungssache?

Ischinger: Die Vereinbarung über die Ausreise der in die Botschaft geflüchteten DDR-Bürger gelang in Abstimmung zwischen dem damaligen Bundesaußenminister Genscher und seinem DDR-Kollegen Oskar Fischer, koordiniert mit den beiden zuständigen Innenministern beider Seiten. Es handelte sich also um eine bilaterale Vereinbarung zwischen den beiden Regierungen in Bonn und Ost-Berlin.

NJW: Weshalb führte die Reiseroute der Züge damals eigentlich über das Staatsgebiet der DDR und nicht direkt von der damaligen Tschechoslowakei nach West-Deutschland?

Ischinger: Die DDR beharrte bei den Verhandlungen mit der Bonner Regierung darauf, dass aus grundsätzlichen (ideologischen) Gründen die DDR-Bürger nur dann nach Westdeutschland würden ausreisen dürfen, wenn sie vorab ihre DDR-Staatsbürgerschaft ablegen würden. Deshalb setzte die DDR die Forderung durch, die Züge über ihr Territorium zu führen, damit während des Aufenthalts auf DDR-Staatsgebiet unter Kontrolle durch DDR-Beamte den Flüchtlingen ihre DDR-Ausweise oder Pässe abgenommen werden konnten. Die Rechtsauffassung der DDR war es, dass mit dieser von ihr geforderten Abgabe der Dokumente konkludent die Aufgabe der DDR-Staatsangehörigkeit verbunden sei.

NJW: Stichwort Hoheitsgebiet: Warum wurden Züge der Reichsbahn und nicht der Bundesbahn eingesetzt?

Ischinger: Auch dies war eine von der DDR geforderte und bei den Verhandlungen durchgesetzte Bedingung. Es war der DDR-Regierung anscheinend wichtig, durch Nutzung der Reichsbahn möglichst umfassende Kontrolle über die Modalitäten der Zugfahrt behalten zu können. Bemerkenswert war, dass es in den Zügen weder irgendetwas zu essen oder zu trinken gab und dass es trotz der Temperaturen, die nachts unter dem Gefrierpunkt lagen, in den Zügen keine Heizung gab. Dadurch war die Fahrt, die eine ganze Nacht hindurch, also etwa zwölf Stunden lang dauerte, maximal unbequem und beschwerlich.

NJW: Sie begleiteten damals einen dieser Züge. Was war Ihre Aufgabe, und welche Rechte hatten Sie?

Ischinger: Meine Aufgabe war es, die Flüchtlinge diplomatisch zu begleiten und ihnen die Gewissheit zu vermitteln, dass sie mit dem Einsteigen in diese Züge nicht etwa in eine Falle der DDR tappen, sondern tatsächlich in der Bundesrepublik Deutschland ankommen würden. Hier ging es also insbesondere auch um psychologische Beruhigung und Aufmunterung. Im Übrigen gehörte es zu meinen Aufgaben, sämtlichen Flüchtlingen einzuschärfen, dass sie den gesamten Inhalt ihrer DDR-Ausweispapiere (Pass oder Personalausweis) einschließlich sämtlicher Nummern und Daten präzise auf einem Stück Papier abschreiben sollten, damit diese Angaben nach Ankunft in der BRD unbürokratisch und möglichst unkompliziert zur Ausstellung neuer Personaldokumente genutzt werden konnten.

NJW: Und so ein Zettel reichte für die Beantragung neuer Ausweispapiere in Westdeutschland?

Ischinger: Ja, diese „Zettel“ dienten dann den westdeutschen Behörden als Grundlage zur Ausstellung neuer Ausweisdokumente. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es bei dieser Aktion durchaus vorkam, dass der eine oder andere Flüchtling durch nicht korrektes Abschreiben seine Identität bzw. seine Lebensumstände zu verändern versuchte: Es gab zum Beispiel Fälle, in denen ich bei Überprüfung feststellen musste, dass zwar im DDR-Ausweis „verheiratet“ stand, die betreffende Person aber auf dem Zettel „ledig“ notiert hatte. Konfrontiert mit der Inkongruenz, wurde mir gesagt, die Ehe habe ohnehin nur auf dem Papier bestanden und sei nur wegen der in der DDR verbreiteten Wohnungsnot für junge Leute eingegangen worden. Ich musste ausdrücklich auf mögliche strafrechtliche Folgen einschließlich Urkundenfälschung und Bigamie hinweisen, um in solchen Fällen tatsächlich die korrekte Wiedergabe der Lebensumstände bzw. der Identität einiger der Betroffenen sicherzustellen.

NJW: Was geschah mit denjenigen, die keinen DDR-Pass oder -Personalausweis (mehr) besaßen, den sie hätten abgeben können?

Ischinger: Diese Fälle waren gar nicht so selten. Manche Flüchtlinge hatten sich nämlich ihrer Ausweisdokumente schon entledigt, bevor sie überhaupt in Prag angekommen waren, vermutlich aus Angst vor Repressalien oder anderen rechtlichen Schritten. Ihnen wurde der Rat gegeben, den DDR-Kontrolleuren gegenüber auf den Verlust ihrer Ausweisdokumente während der Ausreise aus der DDR hinzuweisen. Dies wurde von den Kontrolleuren nach meiner Kenntnis nicht nur in dem von mir betreuten Zug, sondern ganz allgemein akzeptiert. Offenbar gab es doch ein erhebliches Interesse auf hoher politscher Ebene der DDR, die über die Lösung des Prag-Problems gefundene Vereinbarung nicht wegen solcher Einzelheiten infrage zu stellen.

NJW: Wenn die StaSi einem oder mehreren Flüchtling(en) die Weiterreise verweigert bzw. ihn zum Aussteigen gezwungen hätte, hätten Sie rechtliche Möglichkeiten gehabt, dies zu verhindern?

Ischinger: Bei Licht betrachtet, natürlich nicht. Allerdings habe ich den mir anvertrauten Flüchtlingen wiederholt angedeutet, dass ich als mit Diplomatenpass ausgestatteter Vertreter der Bundesrepublik Deutschland es würde verhindern können, dass Flüchtlinge aus meinem Zug selbigen zwangsweise verlassen müssen. Zum Glück kam es nicht zu einer entsprechenden Kraftprobe.

NJW: Aus welchen rechtlichen Gründen hätte die Weiterreise tatsächlich verweigert werden können?

Ischinger: Theoretisch hätten die DDR-Behörden etwa jemanden, der dort zur Fahndung ausgeschrieben war, natürlich festnehmen bzw. an der Weiterfahrt hindern können. Es war nun aber Teil der Vereinbarung zwischen den beiden Regierungen, dass den Flüchtlingen der Transfer in die BRD ermöglicht werden sollte. Deshalb hat die DDR-Seite nach meiner Kenntnis in keinem der Züge versucht, Einzelne aus rechtlichen oder sonstigen Gründen an der Weiterfahrt zu hindern.

NJW: Sie ermahnten die Flüchtlinge immer wieder, sich an geltendes Recht zu halten. Welche Verstöße hätten sie mit welchen Konsequenzen begehen können?

Ischinger: Hier ging es insbesondere um erstens das korrekte Ausfüllen der bereits erwähnten „Ersatzausweise“. Zweitens ging es darum, sicherzustellen, dass es seitens der Flüchtlinge während der Fahrt weder zu Sachbeschädigungen noch zu sonstigen Vorfällen kommen würde, die zu einer Störung der Reise hätten Anlass geben können. Ich kann im Rückblick feststellen, dass sie mit mir das Interesse teilten, insbesondere während der Fahrt durch die DDR bei niemandem Anstoß zu erregen. Es herrschte große Angst im Zug.

NJW: Welche Lehren lassen sich aus diesen Ereignissen für die heutige Krisendiplomatie ziehen?

Ischinger: Die allerwichtigste Lehre für die Zukunft der Konfliktdiplomatie ist, dass solche Abkommen wasserdicht sein müssen, entweder durch detaillierte Vereinbarungen oder durch den gemeinsamen politischen Beschluss auf oberster Ebene, das Projekt störungsfrei durchzuführen und die dafür notwendigen Weisungen unzweideutig zu erlassen. Ganz offensichtlich war es ein damals für die DDR-Führung wichtiges Ziel, diese für sie durchaus peinliche Ansammlung von tausenden ihrer Bürger in Prag möglichst rasch, ohne weiteres Aufsehen und möglichst ohne größeren Reputationsschaden loszuwerden.

Prof. h. c. Wolfgang Ischinger begann seinen diplomatischen Dienst bei der UNO in New York. 1975 trat er in den Auswärtigen Dienst in Bonn ein. Er war Staatssekretär im Auswärtigen Amt, deutscher Botschafter in Washington D. C. und London. Von 2008 bis 2022 leitete er die Münchener Sicherheitskonferenz. Die Begleitung eines der Züge in die Freiheit bezeichnete er mal als das emotionalste Erlebnis in 40 Jahren diplomatischen Diensts.

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Interview: Monika Spiekermann.