Interview
"Die Zeit dafür ist jetzt"
Interview

In welchem Umfang dürfen sich gemeinnützige Organisationen politisch engagieren, ohne den Verlust dieses Status befürchten zu müssen? Diese Frage stellen sich seit Januar 2019 viele Vereine und Stiftungen, nachdem der BFH der globalisierungskritischen Organisation „Attac“ wegen der Verfolgung politischer Zwecke die Gemeinnützigkeit aberkannt hat. 

25. Sep 2024

Seitdem ist die Verunsicherung bei den dem Gemeinwohl verpflichteten Organisationen so groß, dass sich im Juni über 100 von ihnen in einem offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit der Bitte gewandt haben, die im Koalitionsvertrag versprochene Reform des Gemeinnützigkeitsrechts endlich anzugehen. Besteht hier wirklich Handlungsbedarf? Fragen an Prof. Dr. Sebastian Unger von der Ruhr-Universität Bochum.

NJW: Viele gemeinnützige Vereine und Stiftungen sehen sich in ihrer Arbeit bedroht; sie riskierten wegen eines veralteten Gemeinnützigkeitsrechts ihre Existenz, etwa wenn sie sich gegen Rechtsextremismus engagierten, heißt es in einem offenen Brief an Olaf Scholz. Ist das so?

Unger: Wichtig ist zunächst, zwischen der „Existenz“ als Verein oder Stiftung und dem steuerlichen Status der Gemeinnützigkeit zu unterscheiden. Politisches Engagement berührt rein rechtlich nur diesen Status, der allerdings für die Organisationen wegen der mit ihm verbundenen steuerlichen Privilegien und seiner darüber hinaus reichenden „Strahlkraft“ faktisch lebensnotwendig ist. Sodann sind die steuerrechtlichen Vorgaben für eine politische Betätigung in den Blick zu nehmen: Das geltende Recht lässt durchaus Spielräume und erlaubt nach dem Anwendungserlass der Finanzverwaltung zur Abgabenordnung insbesondere vereinzelte Stellungnahmen zu tagespolitischen Themen außerhalb der steuerbegünstigten Satzungszwecke. Aufrufe „für Klimaschutz und gegen Rassismus“ werden ausdrücklich genannt. Das darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Finanzverwaltung und Finanzgerichte der politischen Betätigung gemeinnütziger Organisationen insgesamt mit großer Skepsis begegnen. Ausdruck findet diese vor allem in der Auffassung, die politische Betätigung müsse sich selbst dann, wenn sie auf die Förderung der eigenen steuerbegünstigten Satzungszwecke ziele, im „Hintergrund“ halten und dürfe jedenfalls bei einer Gesamtbetrachtung der Tätigkeit nicht überwiegen. Diese Linie hat in der Zivilgesellschaft zu großer Verunsicherung geführt.

NJW: Wohl deshalb steht auch die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts auf der Agenda der Ampel. Was hat sich da bislang getan?

Unger: Der Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien hatte seinerzeit große Hoffnungen auf eine ernsthafte und grundlegende Reform des Gemeinnützigkeitsrechts geschürt, dessen Grundstrukturen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen. Diese Hoffnungen haben sich leider nicht erfüllt. Immerhin hat die Regierung jetzt in den Entwürfen für ein „Jahressteuergesetz 2024“ und ein „Steuerfortentwicklungsgesetz“ das Thema punktuell aufgegriffen. Überzeugen können die geplanten Änderungen allerdings nicht. Mit Blick auf die politische Betätigung regeln sie lediglich die Stellungnahme zu tagespolitischen Themen. Diese soll zukünftig „gelegentlich“ zulässig sein. Die praktisch viel wichtigere Frage, inwieweit gemeinnützige Vereine und Stiftungen sich innerhalb ihrer steuerbegünstigten Satzungszwecke politisch betätigen dürfen, bleibt offen. Gerade hier sind die Grenzen einer politischen Betätigung angesichts der diffusen und dogmatisch nicht überzeugenden Verweisung der politischen Betätigung auf den „Hintergrund“ der Gesamttätigkeit für gemeinnützige Organisationen unklar. Eine gesetzliche Klarstellung ist daher dringend erforderlich.

NJW: Das klingt wenig ermutigend. Müsste die Bundesregierung nicht mit Blick auf das Erstarken antidemokratischer Kräfte ein ureigenes Interesse daran haben, außerparteiliches Engagement zu stärken und zu schützen?

Unger: Die gemeinnützigkeitsrechtliche Engführung der politischen Betätigung birgt die Gefahr einer unpolitischen Zivilgesellschaft. Eine solche widerspricht nicht nur den politischen Vorgaben an bürgergesellschaftliches Wirken. Sie gerät auch in Konflikt mit rechtlichen Vorgaben. Instruktiv ist ein Blick auf das europäische Verfassungsrecht. Dieses verpflichtet die „Organe“ der Europäischen Union ausdrücklich auf einen „Dialog mit der Zivilgesellschaft“. Darüber hinaus ist die Zivilgesellschaft eine tragende Säule der europäischen Rechtsstaatsarchitektur. Die Europäische Agentur für Grundrechte sieht sie in einer Schlüsselrolle bei der Förderung einer „rule of law culture“ bis hin zur Kontrolle des Staates mittels „advocacy and litigation“. Eine unpolitische Zivilgesellschaft kann das nicht leisten. Kritik der Europäischen Union am deutschen Gemeinnützigkeitsrecht überrascht daher nicht. Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Die gegenwärtigen Vorgaben für die politische Betätigung gemeinnütziger Organisationen sind alles andere als klar und eröffnen daher Spielräume bei der Rechtsanwendung. Diese führen nicht nur zu Verunsicherung in der Zivilgesellschaft, sondern bergen auch die Gefahr einer Instrumentalisierung des Gemeinnützigkeitsrechts gegen diese.

NJW: Was folgt daraus Ihrer Meinung nach?

Unger: In einer Zeit, in der über den besseren Schutz der Institutionen des demokratischen Rechtsstaats nachgedacht wird, ist ein klarer Rahmen für die politische Betätigung gemeinnütziger Organisationen dringend erforderlich. In den falschen Händen liefert das Gemeinnützigkeitsrecht sonst Munition für die Beschädigung oder gar Beseitigung zivilgesellschaftlicher Strukturen.

NJW: Ab wann wird ein politisches Engagement denn zu politisch, und wer beurteilt das?

Unger: Mit Blick auf die engen verfassungsrechtlichen Grenzen für einen Steuerabzug von Parteispenden dürfen gemeinnützige Organisationen politische Parteien nach § 55 I Nr. 1 S. 3 AO weder unterstützen noch fördern. Es gilt also, Abstand zum parteipolitischen Betrieb zu halten. Das bedeutet indes nicht, dass gemeinnützige Organisationen keine Themen in den Blick nehmen dürfen, die sich wie zum Beispiel der Klimaschutz vor allem einer bestimmten politischen Partei zuordnen lassen. Das Grundproblem der Skepsis gegenüber einer politischen Betätigung ist die unzureichende Differenzierung zwischen politischen Parteien, die nach tatsächlicher politischer Macht streben, und politischen Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich lediglich an der politischen Willensbildung beteiligen und daher auch im Grundgesetz geringeren Anforderungen an Organisation und Transparenz unterworfen werden als politische Parteien.

NJW: Wer veranlasst eigentlich die Prüfung des politischen Engagements?

Unger: Die umfassende Prüfung der Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen erfolgt durch die Finanzverwaltung im Rahmen der Veranlagung zur Körperschaftsteuer, und zwar von Amts wegen. Die im angesprochenen Brief an den Bundeskanzler erwähnten „Anzeigen“ beim Finanzamt wegen einer angeblich unzulässigen politischen Betätigung sind daher jedenfalls rechtlich bedeutungslos.

NJW: Welche Punkte müsste die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts vor diesem Hintergrund insbesondere angehen?

Unger: Wichtig ist meiner Meinung nach vor allem eine klare Regelung der politischen Betätigung als Mittel zur Förderung der eigenen steuerbegünstigten Zwecke, die diese nicht auf den „Hintergrund“ der zivilgesellschaftlichen Organisationen verweist, sondern als wesentliches oder sogar ausschließliches Instrument zur Zweckverfolgung ausdrücklich anerkennt. Darüber hinaus sollte der Gesetzgeber aber auch andere Themen nicht aus dem Blick verlieren. Das Gemeinnützigkeitsrecht bedarf über die politische Betätigung hinaus einer Reform, die diesen Namen verdient. Die Zeit dafür ist jetzt. 

Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Passau und Referendariat, Promotion und Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität München führte Prof. Dr. Sebastian Unger sein Weg an die Ruhr-Universität Bochum. Dort ist er seit 2015 Professor für Öffentliches Recht und Steuerrecht sowie Co-Direktor des Instituts für Steuerrecht und Steuervollzug. Zu seinen Forschungsgebieten gehört das Recht der Zivilgesellschaft. Im Bereich der Lehre liegt ihm die universitäre Examensvorbereitung besonders am Herzen. Seit 2018 koordiniert er das Bochumer Examensvorbereitungsprogramm „Rubrum“. Unger ist Mitherausgeber der im Verlag C.H.Beck erscheinenden Zeitschrift npoR, Mitveranstalter des Bochumer Stiftungsrechtstags sowie Vorstandsmitglied im Bundesverband Deutscher Stiftungen.

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Interview: Monika Spiekermann.