Interview
Achtstundentag in Gefahr?

Im Juli hat sich die Ampelkoalition über den Bundeshaushalt 2025 geeinigt. Darin enthalten ist unter anderem eine Wachstumsinitiative, die auch eine Flexibilisierung der Tageshöchstarbeitszeit vorsieht. Bedeutet dies das Ende des Achtstundentags? Und welche Grenzen setzt das Arbeitszeitrecht einer solchen Flexibilisierung? Fragen an Prof. Dr. Daniel Ulber von der Universität Halle-Wittenberg.

21. Aug 2024

NJW: Die Ampel will mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit. Was ist da konkret geplant?

Ulber: Die Bundesregierung möchte Anreize dafür schaffen, dass die Beschäftigten ihre Arbeitszeit ausweiten und neben steuerlichen Anreizen den Tarifvertrags- und Betriebsparteien ermöglichen, die tägliche Arbeitszeit über die aktuell bestehenden gesetzlichen Grenzen hinaus auszudehnen.

NJW: Sind diese Überlegungen etwas grundlegend Neues?

Ulber: Nein. Bereits der Koalitionsvertrag sieht vor, dass den Tarifvertragsparteien im Rahmen einer Experimentierklausel die Abweichung von Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes mit Blick auf die Tageshöchstarbeitszeit ermöglicht werden soll. Das war auch schon durch die Große Koalition so verabredet, ist aber nie realisiert worden. Zudem sieht die geltende Rechtslage bereits vor, dass die tägliche Arbeitszeit – ohne Tarifvertrag – auf bis zu zehn Stunden und mit Tarifvertrag bei Bereitschaftszeiten auch darüber hinaus erhöht werden kann.

NJW: Wie flexibel lässt sich die tägliche Arbeitszeit darüber hinaus bereits unter dem ArbZG gestalten?

Ulber: Mit den bestehenden Regelungen kann aktuell zehn Stunden pro Tag an sechs Werktagen in der Woche gearbeitet werden, wenn im Durchschnitt 48 Stunden wöchentliche Arbeitszeit nicht überschritten werden. Selbst Unternehmen mit Fünf-Tage-Woche können Beschäftigte so dauerhaft 48 Stunden pro Woche und regelmäßig zehn Stunden pro Tag arbeiten lassen. Bei Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdiensten können die Tarifvertragsparteien schon heute weitere Überschreitungen zulassen. Dass dieser großzügige gesetzliche Rahmen regelmäßig erreicht oder gar überschritten werden muss, ist nicht ersichtlich.

NJW: Kritiker befürchten deshalb wohl auch das Ende des Achtstundentags. Ist das so?

Ulber: Die Bundesregierung sieht das nicht so, weil die Änderungen nur befristet vorgenommen werden sollen. Zudem soll die Öffnung nur per Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung ermöglicht werden. Der Achtstundentag ist der Ausgangspunkt des Arbeitszeitrechts, und zwar übrigens weltweit. Das liegt daran, dass arbeitsmedizinische Erkenntnisse belegen, dass Menschen ohne deutlichen Leistungsabfall und erhöhte Fehleranfälligkeit nicht länger als acht Stunden arbeiten können; er war in Deutschland aber schon immer aufgeweicht. Insbesondere gibt es für eine Vielzahl von Berufsgruppen und Branchen Abweichungsmöglichkeiten und Ausnahmen.

NJW: Die Ampel hingegen sieht in ihrem Vorhaben lediglich eine Weiterentwicklung des Arbeitszeitrechts. Wie sehen Sie das?

Ulber: Tatsächlich wird durch das Vorhaben das bestehende Konzept des Gesetzes, den Abbau des Gesundheitsschutzes durch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen zu ermöglichen, nur fortgeschrieben und erweitert.

NJW: Wäre eine Änderung des ArbZG rechtlich möglich, und wie könnte die aussehen?

Ulber: Das ArbZG kann der deutsche Gesetzgeber nur im Rahmen der Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie ändern. Diese sieht nicht nur vor, dass die wöchentliche Höchstarbeitszeit im Durchschnitt 48 Stunden nicht überschreiten darf, sondern auch, dass zwischen zwei Arbeitseinsätzen eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden liegen muss. Von beiden Vorgaben generell zugunsten der Tarifvertragsparteien abzuweichen, steht nicht im Einklang mit den Vorgaben der Richtlinie, etwa dem Erfordernis der Gewährung gleichwertiger Ausgleichsruhezeiten und einigem mehr. Besser wäre es, der Gesetzgeber würde sich an die zugegebenermaßen kleinteilige Aufgabe machen, für einzelne Berufsgruppen und Tätigkeiten Sonderregeln zu schaffen, wie es etwa der Art. 17 der Arbeitszeitrichtlinie vorsieht.

NJW: Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Pläne der Ampel?

Ulber: Niemand hat etwas dagegen, wenn der Gesetzgeber darüber nachdenkt, wie Schutzbedürfnisse von Beschäftigten und Potenziale der Digitalisierung in Einklang gebracht werden können. Das müsste aber im Einklang und nicht im Widerspruch zum Unionsrecht geschehen. Hier scheint mir noch einiges zu tun zu sein.

NJW: Trotzdem wird das ArbZG oft nicht eingehalten, weshalb dessen starre Vorgaben häufig für nicht mehr zeitgemäß erachtet werden. Zu Recht?

Ulber: Zunächst einmal belegen Gesetzesverstöße ja nicht, dass ein Gesetz nicht zeitgemäß ist. So starr ist das ArbZG zudem auch nicht. Man muss zwischen zwei Konstellationen trennen. Soweit es Tätigkeiten betrifft, bei denen Menschen physische Arbeit in Betriebsstätten erbringen, besteht kein Änderungsbedarf und werden – soweit ersichtlich – die gesetzlichen Regelungen auch überwiegend eingehalten. Aber das ArbZG ist in Kraft getreten, bevor die Digitalisierung mobiler Arbeit und Home Office zum Durchbruch verholfen hat und Arbeiten „any place, any time“ möglich wurde. Bei bestimmten Berufsgruppen und Tätigkeiten – häufig solche, die früher regelmäßig von Freiberuflern und Selbstständigen ausgeübt wurden – gibt es daher Probleme. Hier sollte man sich anschauen, was man punktuell, etwa für Wissensarbeiter, regeln kann. Das ArbZG müsste man dafür aber nicht grundlegend ändern. Es bräuchte eher eine Aufteilung in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil.

NJW: Haben nicht auch Beschäftigte ein Interesse an flexibleren Arbeitszeiten?

Ulber: Grundsätzlich gilt, dass der Arbeitgeber das Direktionsrecht hinsichtlich der Lage und – innerhalb der gesetzlichen Grenzen – auch der Dauer der täglichen Arbeitszeit hat. Wenn hier Begrenzungen aufgehoben werden, bedeutet das für Beschäftigte nicht mehr Flexibilität, sondern einen Verlust an Planbarkeit. Personen, die Angehörige pflegen oder Kinder betreuen, brauchen aber mehr Zeitsouveränität, also Selbstbestimmung hinsichtlich Dauer und Lage ihrer Arbeitszeit. Das ist jedoch das Gegenteil von dem, was der Gesetzgeber im Moment vorhat.

NJW: Was bedeuten die Pläne der Ampel für die Dokumentation der Arbeitszeiten und den Arbeitnehmerschutz?

Ulber: In Deutschland, wie in ganz Europa, sind Arbeitgeber verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Überstunden erfasst werden. Bei uns folgt das – bei unionsrechtskonformer Auslegung – aus § 3 II Nr. 1 ArbSchG. Allerdings ist unklar, wie solche Systeme ausgestaltet sein müssen, weil der Gesetzgeber bislang keine Regelungen dazu erlassen hat. Das führt in der Praxis zu Rechts- und Planungsunsicherheit sowie unnötigen Transaktionskosten. Es wäre gut, wenn der Gesetzgeber eine rechtssichere Regelung schaffen würde.

NJW: Im Februar hatte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit Unterstützung der FDP die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzesvorschlag zur Einführung einer wöchentlichen statt einer täglichen Arbeitszeit vorzulegen. Eine gute Idee?

Ulber: Eine Abkehr von einer täglichen Höchstarbeitszeit kann man nur vorsehen, wenn man gleichzeitig den Vorgaben der Richtlinie zur täglichen Mindestruhezeit Rechnung trägt. Das führt dann mittelbar wieder zu einer täglichen Höchstarbeitszeit. Dass Probleme im Bereich der Ruhezeit bestehen, die man lösen sollte, ist aber richtig. Es wäre gut, die Diskussion insgesamt zu versachlichen und zu erkennen, dass die Lösung nicht in einem Abbau, sondern nur in einem schonenden Umbau des Gesetzes liegen kann. 

Prof. Dr. Daniel Ulber lehrt seit Februar 2017 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Bürgerliches Recht, Unternehmensrecht und Arbeitsrecht. Studiert hat er in Köln. Während des Referendariats schloss er seine Promotion mit einer arbeitsrechtlichen Schrift ab, im Oktober 2015 habilitierte ihn die Universität zu Köln und verlieh ihm die Venia Legendi für die Fächer Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Arbeits- und Sozialrecht sowie Europarecht. Nach drei Lehrstuhlvertretungen ernannte ihn die Universität Halle-Wittenberg zum Professor.

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Interview: Monika Spiekermann.