Interview
Kontrollen der Binnengrenzen?
Interview

Während der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland wurden die Binnengrenzen kontrolliert. Diese Kontrollen sollen jetzt auslaufen. Hiergegen regt sich Widerstand: Politiker aus mehreren Parteien fordern eine Fortsetzung. Ob und unter welchen Voraussetzungen dies möglich wäre, haben wir Dr. Jonas Bornemann gefragt.

6. Aug 2024

NJW: Unter welchen Voraussetzungen dürfen deutsche Binnengrenzen kontrolliert werden?

Bornemann: Binnengrenzkontrollen können dann wieder eingeführt werden, wenn eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit besteht. Das ist zum Beispiel bei terroristischen Bedrohungslagen der Fall. Der Umfang und die Dauer der Grenzkontrollen müssen jedoch in jedem Fall auf das unbedingt Erforderliche beschränkt bleiben. Die Bundesrepublik gehört allerdings zu denjenigen Mitgliedstaaten, die die eigentlich als temporäre Maßnahme gedachten Binnengrenzkontrollen an einigen Grenzen praktisch permanent wiedereingeführt haben. Zwar hat der EuGH eine ähnliche Vorgehensweise Österreichs gerügt, jedoch bezog sich dieses Urteil auf den damals geltenden Rechtsrahmen im Schengener Grenzkodex, der kürzlich geändert wurde. Somit besteht derzeit keine Eindeutigkeit, inwiefern die deutschen Binnengrenzkontrollen mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

NJW: An welchen Grenzen wird aus welchen Gründen derzeit noch kontrolliert?

Bornemann: Aktuell wird an den Grenzen zu Polen, der Schweiz, Tschechien und Österreich kontrolliert. Die Kontrollen zielen auf die Bekämpfung terroristischer Aktivitäten, sind aber auch eine Reaktion auf Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine sowie auf irreguläre Migrationsbewegungen.

NJW: Waren die Grenzkontrollen während der EM aus Ihrer Sicht erfolgreich?

Bornemann: Das Bundesinnenministerium spricht vom Erfolg der Kontrollen und verweist in diesem Zusammenhang unter anderem auf die Verhinderung unautorisierter Einreisen. Aus meiner Sicht waren sie vor allem deswegen erfolgreich, weil die Bundespolizei bei Art und Umfang der Kontrollen mit Maß vorgegangen ist. Stationäre Kontrollen an allen Grenzübergängen hätten zu erheblichen Staus und Wartezeiten geführt, was für Fußballfans wie alle anderen Reisenden gleichermaßen ärgerlich gewesen wäre. Stattdessen wurden die Kontrollen mit Blick auf den Alltag in Grenzregionen angepasst, so dass der Reiseverkehr nicht zu stark in Mitleidenschaft gezogen wurde und dennoch auf etwaige Bedrohungslagen reagiert werden konnte.

NJW: Wäre eine Fortführung der Grenzkontrollen an allen deutschen Binnengrenzen nach der EM rechtlich möglich?

Bornemann: Sportliche Großereignisse sind ein Paradebeispiel für Situationen, in denen das Unionsrecht die Wiedereinführung von Grenzkontrollen erlaubt. Entsprechend wird es wohl auch während der Olympischen Spiele zu Kontrollen an der deutsch-französischen Grenze kommen. Darüber hinaus muss die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen aber durch Bedrohungen für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit gerechtfertigt sein. Das scheint nach Ansicht des Bundesinnenministeriums aktuell nicht der Fall zu sein. Es ist zudem wichtig zu erwähnen, dass die derzeitigen Kontrollen zu Polen, der Schweiz, Tschechien und Österreich auch nach der EM weiterbestehen werden. Unabhängig von der Frage, ob Grenzkontrollen an allen deutschen Binnengrenzen rechtlich möglich wären, stellen dermaßen umfangreiche Kontrollen die Bundespolizei auch vor ganz praktische Herausforderungen. Stationäre Grenzkontrollen an allen deutschen Binnengrenzen wären personell kaum zu stemmen und würden sich womöglich negativ auf die Arbeit der Bundespolizei an anderer Stelle auswirken.

NJW: Die Grenze zu den Niederlanden gilt als Einfallstor für illegale Drogeneinfuhr. Könnte das Grenzkontrollen rechtfertigen?

Bornemann: Grundsätzlich ja, solange dies zur Abwehr einer ernsten Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit notwendig ist. Wichtig zu erwähnen ist jedoch, dass die Wiedereinführung erheblich in den Alltag der oft eng verflochtenen Grenzregionen eingreift. Sicherheitserwägungen müssen daher immer auch gegen die legitimen Interessen der dort lebenden Menschen abgewogen werden. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die täglich über die Grenze pendeln, sind dadurch ausgelöste Staus und Verzögerungen ein echtes Ärgernis, das sie stark in ihrem Alltag einschränkt. Darüber hinaus hat die Bundespolizei die Mittel, um viel zielgenauere Maßnahmen zu ergreifen, um etwa die illegale Drogeneinfuhr zu unterbinden.

NJW: Welche Maßnahmen können Mitgliedstaaten denn jenseits von Grenzkontrollen treffen, um ihre Grenzen zu sichern?

Bornemann: Das Schengenrecht steht der Ausübung polizeilicher Befugnisse in Grenzregionen nicht entgegen. Das bedeutet, dass die Bundespolizei ihre Kapazitäten und Expertise nutzen kann, um gezielt gegen grenzüberschreitende Kriminalität oder unautorisierte Einreisen vorzugehen. Dies setzt eine enge Kooperation mit den Behörden der Schengen-Nachbarstaaten voraus, eröffnet den deutschen Behörden aber einen großen Spielraum, die Grenzen zu kontrollieren, ohne dass zu diesem Zweck eine formelle Wiedereinführung von Grenzkontrollen notwendig wäre. Von zunehmender Bedeutung sind in der Praxis zudem Kontroll- und Überwachungstechnologien, die es den Behörden ermöglichen, Bedrohungslagen einzuschätzen, ohne den Grenzverkehr zu beeinträchtigen. In Grenzregionen sind zudem Maßnahmen wie die Schleierfahndung grundsätzlich erlaubt.

NJW: Sie hatten eingangs schon erwähnt, dass der Schengener Grenzkodex kürzlich geändert wurde. Inwiefern?

Bornemann: Die Reform folgt dem Drängen von Mitgliedstaaten wie etwa Deutschland, die seit fast zehn Jahren dauerhaft Kontrollen an ihren Binnengrenzen durchführen. Entsprechend wurden die Zeiträume, in denen diese durchgeführt werden dürfen, erheblich ausgeweitet und den nationalen Behörden ein größerer Spielraum für Kontrollmaßnahmen eingeräumt, die unterhalb der Schwelle formeller Binnengrenzkontrollen durchgeführt werden können. Kontrovers diskutiert wird darüber hinaus ein neu eingeführtes Verfahren zur Überstellung von Personen, die in unmittelbarer Nähe zur Binnengrenze aufgegriffen wurden und nicht in diesem Staat aufenthaltsberechtigt sind. Dieses Verfahren ermöglicht nationalen Grenzbehörden, jene Personen unverzüglich in den Schengenstaat, aus dem sie eingereist sind, zu überstellen. Sofern von dieser Option Gebrauch gemacht wird, muss jedoch eine enge Kooperation zwischen den Behörden beider Mitgliedstaaten sichergestellt sein, um eine erneute unautorisierte Einreise zu vermeiden.

NJW: Halten Sie den Schengener Grenzkodex in seiner jetzigen Fassung für sinnvoll und praktikabel?

Bornemann: Aus Sicht der Sicherheitsbehörden ist die Reform des Schengener Grenzkodex sicherlich eine gute Sache. Viele Änderungen zielen darauf, den nationalen Behörden größere Spielräume zu gewähren oder Praktiken zu kodifizieren, die bisher nicht explizit im Unionsrecht vorgesehen waren. Dies gilt insbesondere auch für Maßnahmen, die bei einer gesundheitlichen Notlage ergriffen werden können, was eine Lehre aus der Pandemie ist. Zugleich veranlassen einige Änderungen des Grenzkodex zu der Frage, inwiefern der aktuelle Sekundärrechtsrahmen dem zentralen Versprechen des Schengener Übereinkommens Genüge tut, einen Raum zu schaffen, in dem Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden. Gemäß den neuen Regelungen des Grenzkodexes ist es nicht undenkbar, dass Mitgliedstaaten Binnengrenzkontrollen dauerhaft wiedereinführen. Zwar betont der Grenzkodex weiterhin die zentrale Rolle der Verhältnismäßigkeitsabwägung, allerdings steht zu bezweifeln, dass die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen diejenigen Mitgliedstaaten anstrengen würde, deren Grenzkontrollen sie als unverhältnismäßig betrachtet. Die Reform scheint den Wünschen einiger Mitgliedstaaten zu entsprechen, Binnengrenzkontrollen und andere Kontrollmaßnahmen in Grenzregionen zu normalisieren und zu verstetigen.

Dr. Jonas Bornemann, LL.M. (Maastricht), ist Assistant Professor für Europäisches Recht an der Universität Groningen. Dort forscht er schwerpunktmäßig zum europäischen Verfassungsrecht und Migrationsrecht, das auch Gegenstand seiner Promotion an der Universität Konstanz bei Prof. Dr. Daniel Thym war.

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Interview: Tobias Freudenberg.