Interview
Schuften bis zum Burnout?

Ulf Marhenke hatte 15 Jahre in einer internationalen Wirtschaftskanzlei im Bereich M&A gearbeitet, als ihn ein Burnout vor zwei Jahren aus der Bahn warf. Uns hat er erklärt, was in Kanzleien vielfach falsch läuft und warum die mentale Gesundheit von Anwälten in Deutschland ein Tabu-Thema ist, über das kaum gesprochen wird.

31. Jul 2024

NJW: Mentale Erkrankungen kommen in unserer Branche angeblich nicht vor. Wie sehen Sie das?

Marhenke: Meine persönlichen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erhebungen aus meiner organisationspsychologischen Forschung zeichnen tatsächlich ein anderes Bild. Im Rahmen einer Studie zur mentalen Gesundheit und Arbeitskultur in Großkanzleien habe ich im vergangenen Jahr 150 Interviews mit Anwältinnen und Anwälten aller Senioritätsstufen geführt. Meine Erkenntnis: Mentale Erkrankungen sind in unserer Branche weit verbreitet, werden aber oft verschwiegen. Viele Kolleginnen und Kollegen kämpfen mit Depressionen, Angststörungen und Burnout, doch das Stigma rund um mentale Gesundheit hindert viele daran, offen darüber zu sprechen und sich Hilfe zu suchen.

NJW: Wer ist besonders gefährdet?

Marhenke: Menschen, denen – bewusst oder unbewusst – eine externe Bestätigung wie Lob, Bewunderung und Beförderung besonders wichtig ist. Diese Kolleginnen und Kollegen kämpfen oft mit dem Imposter-Syndrom, das heißt sie leiden unter chronischen Selbstzweifeln, egal wie erfolgreich sie sind. Sie glauben, dass sie den Eindruck erwecken, kompetenter zu sein, als sie es sind, und haben das tiefe Gefühl, ihnen mangele es an Wissen oder Erfahrung. Ihr Selbstwertgefühl kann wie ein Ballon sehr hoch fliegen, wenn der Wind günstig steht, etwa wenn ein prestigeträchtiger Prozess gewonnen oder ein millionenschwerer Deal abgeschlossen wird. Aber der Ballon kann auch plötzlich durchlöchert werden und wie ein Fetzen zu Boden fallen, wenn ein Prozess verloren geht, ein Geschäft platzt oder ein Mandant abspringt, weil sich nichts Wirkliches entwickelt hat, das innere Stärke und Halt geben könnte.

NJW: Was haben Sie als die wesentlichen Stressfaktoren ausgemacht?

Marhenke: Das enorme Arbeitspensum, die langen Arbeitszeiten und die ständige Erreichbarkeit. Hinzu kommen der Druck, permanent hohe Leistungen zu erbringen, um in der eigenen Peer Group zu bestehen, und die Angst, Fehler zu machen. Auch die fehlende Anerkennung und Unterstützung seitens der Führungsebene spielen eine große Rolle.

NJW: Haben Sie diese Umstände mal in der Partnerversammlung oder im Jahresgespräch angesprochen?

Marhenke: Nein, jedenfalls bis zu meinem Burnout nicht klar und offen genug. Leider wird das Thema oft heruntergespielt oder ignoriert, da es in vielen Kanzleien immer noch als Zeichen von Schwäche gilt, über mentale Gesundheit zu sprechen. Ich musste selbst erst ganz unten auf dem Boden meines Arbeitszimmers ankommen, um zu merken, dass es so nicht weitergeht.

NJW: Warum tun wir uns so schwer, offen über unsere physische und psychische Überforderung zu sprechen?

Marhenke: Das liegt vor allem am Stigma, das immer noch an mentaler Krankheit haftet. Viele fürchten, als schwach oder unfähig wahrgenommen zu werden, wenn sie über ihre Probleme sprechen. Zudem werden negative Auswirkungen auf die Karriere sowie finanzielle und rufschädigende Folgen befürchtet. Das berufliche Selbstbild, dass Anwälte immer stark und ein „Ritter in glänzender Rüstung“ für ihre Mandanten und ihre Kanzlei sein müssen, trägt ebenfalls dazu bei, dass mentale Probleme als Tabu gesehen werden. Daher bleiben viele erstmal in ihrer vermeintlichen „Ritterrüstung“ des unfehlbaren Juristen, bis sie gesundheitlich einknicken.

NJW: Inwiefern haben Anwälte dazu beigetragen?

Marhenke: Indem sie diese „Arbeitskultur“ akzeptiert und gefördert haben. Hohe billable hours und lange Arbeitszeiten wurden und werden häufig als alleiniges Zeichen von Engagement und Erfolg angesehen; sie bringen bis heute Spitzengehälter und hohe Boni mit sich. Dies hat eine toxische Kultur geschaffen, in der Überarbeitung und Selbstausbeutung zur Norm geworden sind. Und dennoch sieht die weit überwiegende Mehrheit ein gesundes Leben als Priorität an – so die Ergebnisse meiner Studie. Die Leistungskultur führt zu einer „systemischen Blindheit“, die Veränderungen verhindert. Sie wird als Realität wahrgenommen, von der man nicht abweichen kann, ohne ausgeschlossen zu werden. Gleichzeitig können das Kanzleisystem und das Prestige einer Großkanzlei als „Auffangbecken“ für Ängste und Selbstzweifel des Einzelnen dienen, nicht zu genügen und den Erwartungen nicht zu entsprechen. Es scheint also, dass Anwälte die beunruhigenden Wahrheiten, die die Statistiken zur psychischen Gesundheit offenbaren, aus Angst vor dem Verlust einer Realität leugnen, mit der sie sich arrangiert haben, um ihre inneren Ängste zu zähmen.

NJW: Wie hat Ihre Kanzlei auf Ihren Burnout reagiert? War der ein Anstoß, um das eine oder andere zu überdenken?

Marhenke: Schockiert und besorgt. Und ja: Mit meinem Austritt habe ich dazu beigetragen, sich mit einer gesünderen und nachhaltigeren Arbeitskultur auseinanderzusetzen.

NJW: Wie ging es danach für Sie weiter?

Marhenke: Zunächst habe ich 2022 ein Executive Master-Studium der Organisationspsychologie und des Change Managements an der INSEAD bei Paris aufgenommen, um das System Großkanzlei zu ergründen. In der Folge habe ich mich entschieden, meine Karriere neu auszurichten und mich neben meiner Anwaltstätigkeit auf die Themen Mental Health und Change zu konzentrieren. Ich arbeite nun einerseits weiterhin als Anwalt, allerdings selbstständig; andererseits habe ich zu Beginn des Jahres meine Beratung Trustwork Consulting gegründet, um Kanzleien, Kolleginnen und Kollegen dabei zu unterstützen, eine gesündere Arbeitskultur zu entwickeln und mentale Gesundheit zu fördern.

NJW: Viele Kanzleien sponsern Kurse für mentale Gesundheit oder bieten Mentorenprogramme an. Zeigt das nicht, dass man sich der Problematik bewusst ist?

Marhenke: Ja, es ist ein Zeichen, dass das Problembewusstsein wächst. Diese Angebote reichen jedoch nicht aus. Ich bezeichne sie als „Pflaster“ auf einer klaffenden Wunde. Der Ansatz ist: „Wir können Dir Achtsamkeits- und Coaching-Programme anbieten, aber es gibt nicht viel, was wir als Organisation tun können, damit es Dir gut geht.“ Wie mag dies auf jemanden wirken, der am Limit ist und den Job für Drei macht?

NJW: Wie könnte man es besser machen?

Marhenke: Anstatt die Lösung des Problems auf die einzelnen Mitarbeiter abzuwälzen, indem man ihnen eine Vielzahl an Leistungen und Programmen anbietet, müssen die Kanzleien ihre Arbeitsstruktur unter die Lupe nehmen – und die „toxischen Rockstars“, die zwar Einnahmen generieren, aber Talente vertreiben. Performance und mentale Gesundheit sind daher auch eine Aufgabe für das Management und die Führungsebene einer Kanzlei, um wirklich nachhaltige Ergebnisse zu erzielen. Obwohl viel Zeit und Geld investiert wird, verfehlen viele Gesundheits- oder Mentorenprogramme dieses Ziel.

NJW: Was muss sich darüber hinaus in den Kanzleien ändern?

Marhenke: Sie müssen eine Kultur der Offenheit und Unterstützung schaffen, in der mentale Gesundheit kein Tabu-Thema mehr ist. Führungskräfte sollten als Vorbilder agieren und eine Kultur der psychologischen Sicherheit schaffen. Nicht nur im Interesse ihrer eigenen Gesundheit und der ihrer Mitarbeitenden, sondern auch, um in einer sich schnell verändernden Welt das nötige Klima für Lernen, Innovation und Wachstum zu schaffen.

NJW: Was raten Sie heute einem Berufseinsteiger, der bei einer internationalen Großkanzlei anheuern will?

Marhenke: Solche Kanzleien bieten spannende Chancen und Herausforderungen, aber es ist wichtig, sich der möglichen Belastungen bewusst zu sein und frühzeitig Strategien zur Stressbewältigung zu entwickeln. Es kann auch hilfreich sein, nach Kanzleien zu suchen, die bereits auf eine gesündere Arbeitskultur setzen. 

Ulf Marhenke absolvierte sein Jurastudium an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, einen LL.M.-Studiengang sowie eine Ausbildung zum Mediator in den USA; 2008 erfolgte die Zulassung zur Anwaltschaft. Nach einem Burnout durchlief er von 2022 bis 2023 erfolgreich einen Executive Master an der privaten Wirtschaftshochschule INSEAD in Fontainebleau, machte sich als Anwalt selbstständig und berät Kanzleien im Bereich Mental Health.

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Interview: Monika Spiekermann.