Interview
Das Gewissen der Justiz
Interview
© Jan Christen

Die Puvogel-Affäre ist untrennbar mit dem Namen eines ehemaligen Richters am OLG Braunschweig verbunden: Dr. Helmut Kramer brachte 1978 den damaligen niedersächsischen Justizminister Hans Puvogel (CDU) zu Fall. 

7. Aug 2024

Zuvor hatte er Kollegen Inhalte aus dessen Dissertation von 1937 zukommen lassen, die zutiefst von der nationalsozialistischen Rassenideologie geprägt war und von der sich der Minister nicht distanzieren wollte. Daraufhin musste er seinen Posten räumen. Doch auch für den heute 94-jährigen Kramer hatte die Affäre ein juristisches Nachspiel, das erst 46 Jahre später mit seiner Rehabilitierung sein Ende fand. Im Gespräch mit der NJW erläutert er, weshalb er seinerzeit seine Kollegen informiert und wie sich dies auf seine Karriere in der Justiz ausgewirkt hat.

NJW: Wann sind Sie zuerst mit der braunen Vergangenheit in der Justiz in Berührung gekommen?

Kramer: Vom Beginn meiner Karriere an – die Nazi-Juristen waren ja allgegenwärtig, gerade in Braunschweig. Ein Schlüsselerlebnis habe ich 1965 gehabt, als ich als Richter auf Probe (damals noch: „Gerichtsassessor“) zum Generalstaatsanwalt in Braunschweig abgeordnet war. Befasst war ich mit der Überprüfung eines Todesurteils des Sondergerichts Braunschweig von 1944. Die 19-jährige Erna Wazinski hatte – selbst ausgebombt – aus Gebäudetrümmern einen fremden Koffer mit wenig wertvollem Inhalt mitgenommen. Sie wurde als „Volksschädling“ im Wolfenbütteler Gefängnis hingerichtet. Alle Voranträge der Mutter auf strafrechtliche Rehabilitierung waren abgeschmettert worden. In meinem Gutachten vom 27.4.​1965 kam ich zu dem Ergebnis, dass das Urteil des Sondergerichts von 1944 unmenschlich war und gegen übergeordnete Gerechtigkeitsgrundsätze verstieß. Das Landgericht rechtfertigte in seinem 57 Seiten umfassenden Beschluss vom 5.10.​1965 in weitgehender Übernahme nationalsozialistischen Rechtfertigungsvokabulars und Begrifflichkeit das Todesurteil als völlig korrekt. Die Entscheidung der Kollegen hat mich empört. Das Schicksal der jungen Frau hat mich nicht losgelassen und es ist mir 1991 endlich gelungen, in einem Wiederaufnahmeverfahren einen Freispruch zu erwirken. Die Details sind in dem recht ausführlichen Wikipedia-Artikel zu Erna Wazinski gut nachzulesen.

NJW: Wie sind Sie seinerzeit an die Dissertation von Hans Puvogel gekommen?

Kramer: Ich war damals Redaktionsmitglied der Gewerkschaftszeitung „ÖTV in der Rechtspflege“. Die Zeitschrift, die übrigens endlich digital auf der Verdi-Internetseite abrufbar ist, hat sich mit Themen auseinandergesetzt, die in der übrigen Rechtsliteratur zu kurz kamen. Auf der Rückreise von einer Redaktionssitzung in Bremen hat mir Jürgen Kühling, später Richter des Bundesverfassungsgerichts, die Kopie gegeben, die er von dem Belegexemplar von Puvogels Doktorarbeit an der Uni Göttingen gemacht hatte.

NJW: Weshalb hielten Sie es für erforderlich, Ihre Kollegen darüber zu informieren?

Kramer: Es herrschte Verunsicherung im Kollegenkreis. Die Doktorarbeit war ja – im Internetzeitalter kaum noch vorstellbar – nur für die wenigsten greifbar! Einige Zitate aus Puvogels Dissertation waren jedoch im Umlauf, etwa (S. 34): „Der Wert des Einzelnen für die Gemeinschaft bemisst sich nach seiner rassischen Persönlichkeit. Nur ein rassisch wertvoller Mensch hat innerhalb der Gemeinschaft eine Daseinsberechtigung. Ein wegen seiner Minderwertigkeit für die Gesamtheit nutzloser, ja schädlicher Mensch ist dagegen auszuscheiden.“ Puvogel hat gegenüber der Presse – wahrheitswidrig – behauptet, er habe hier nur die Rechtsauffassung der Zeit wiedergegeben und keine eigene Meinung vertreten. Daraufhin habe ich die Auszüge kopiert und am 23.3.​1978 verteilt. Wohlgemerkt lediglich Kopien der Dissertation – ohne jeden persönlichen Kommentar meinerseits! Aber das war vielleicht gerade das Kardinalverbrechen. Karl Kraus soll einmal sinngemäß geschrieben haben: Das Schlimmste, was ich gegen jemand sagen kann, ist: Ich zitiere ihn.

NJW: Wie ging es für Sie nach dessen Rücktritt weiter?

Kramer: Auf Anordnung des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU), der nach dem Rücktritt von Hans Puvogel auch als kommissarischer Justizminister fungierte, wurden disziplinarrechtliche Vorermittlungen eingeleitet (§ 26 II NDO, § 66 NdsRiG). Da wurden Fragen gestellt wie: „Sind justizeigene Umschläge verwendet worden? […] Ist das dienstliche Fotokopiergerät verwendet worden?“ Diesbezüglich konnte ich beruhigen – ich habe das privat finanziert. Aber Sie sehen, auf welches geistige Niveau sich meine Dienstvorgesetzen begeben haben. Das Verfahren führte zwar zu keiner förmlichen Disziplinarstrafe. In dem Einstellungsbescheid vom 4.9.​1978 (Az. K 278 Beih. I) wurde eine Dienstpflichtverletzung jedoch ausdrücklich festgestellt, und mir wurde sicherheitshalber das Richterbild überdeutlich gezeichnet: „Es steht dem Richter ebenso wenig wie dem Beamten zu, seinem Vorgesetzten Verfehlungen vorzuwerfen oder dessen Ansehen durch Verbreitung von Tatsachen im Bereich der Behörde zu untergraben, selbst wenn die Tatsachen zutreffend sind.“ Damit könnten sich Richter nicht auf Art. 5 GG berufen!

NJW: War damit zugleich Ihre Karriere in der Justiz beendet?

Kramer: Ja.

NJW: Wie haben sich Ihre damaligen Kollegen Ihnen gegenüber verhalten? Haben sie sich mit Ihnen solidarisiert oder eher von Ihnen distanziert?

Kramer: Am OLG Braunschweig: eisiges Schweigen aller meiner Kollegen, mit unverkennbarer Missbilligung der von mir begangenen „Majestätsbeleidigung“. Hier waren die rechts- und vergangenheitspolitischen Fronten geklärt! Auf der anderen Seite die starke Ermutigung durch die Kolleginnen und Kollegen in der Gewerkschaft ÖTV (heute: Verdi) und der sozialdemokratischen Juristen, so sehr meine Freunde zahlenmäßig auch in der Minderheit waren. Ich selbst habe gesehen, dass ich so oft und so lange wie möglich die geistige Enge des OLG Braunschweig verlassen konnte – unter anderen durch Abordnungen auf eine Vertretungsprofessur an die Uni Bremen und für Forschungsaufträge ans Ministerium sowie Seminare an der Deutschen Richterakademie.

NJW: Wer hat das Rehabilitierungsverfahren angestoßen?

Kramer: Joachim Gottschalk, ein guter Bekannter. Ich wusste nichts von der Initiative, habe mich aber nachträglich sehr gefreut. Die niedersächsische Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann (SPD) schreibt in ihrer Argumentation zur Aufhebung der Disziplinarverfügung unter anderem: „Eigenständiges Denken und sachliche Kritik sind […] für einen funktionierenden Rechtsstaat, insbesondere für die Judikative, konstitutiv. Ohne eine kritische Haltung und einen offenen Geist bleibt die sachliche und persönliche Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter leere Form. […] Das Grundgesetz ist nicht wertneutral, sondern entscheidet sich für zentrale Grundwerte, nimmt sie in ihren Schutz und gibt dem Staat – wie auch seinen Beamtinnen und Beamten, Richterinnen und Richtern – auf, sie zu sichern und zu gewährleisten.“ Damit geht sie weit über das hinaus, was notwendig gewesen wäre, um die Sache vom Tisch zu bekommen. Denn ich hatte mit der kommentarlosen Weitergabe der Zitate ja gerade keine eigene Meinung geäußert.

NJW: Wie bewerten Sie vor dem Hintergrund der Puvogel-Affäre und Ihrer sehr späten Rehabilitierung die Fehlerkultur in der Justiz?

Kramer: Der Zeitraum von 46 Jahren spricht für sich.

NJW: Sie haben sich auch gegen das bis 2008 geltende restriktive Rechtsberatungsgesetz engagiert, indem Sie sich selbst angezeigt haben. Sehen Sie das auch als Teil der Vergangenheitsbewältigung der Justiz?

Kramer: Absolut! Die Geschichte hat gezeigt, dass man das Recht auf keinen Fall allein den Juristen überlassen darf.

Dr. jur. Helmut Kramer studierte Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte sowie anschließend Jura. Seine Karriere in der Justiz begann er 1962 als Gerichtsassessor in Braunschweig. Nach Stationen bei der Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig, als Staatsanwalt sowie als Landgerichtsrat wurde er 1972 Vorsitzender Richter am LG Braunschweig. Von 1975 bis zu seinem Ruhestand 1995 war er Richter am OLG Braunschweig. Anlässlich seiner Rehabilitierung in der Puvogel-Affäre würdigte die niedersächsische Justizministerin ihn Mitte Juni als das Gewissen der niedersächsischen Justiz. Für sein Engagement bei der Aufarbeitung des NS-Justizunrechts wurde Kramer vielfach ausgezeichnet.

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Interview: Michael Dollmann / Monika Spiekermann.