Interview

Eine be­son­de­re Art der Wie­der­gut­ma­chung
Interview

Eine na­he­ste­hen­de Per­son durch ein Tö­tungs­de­likt zu ver­lie­ren oder selbst Opfer einer Straf­tat zu wer­den, be­las­tet den Ge­schä­dig­ten bzw. des­sen An­ge­hö­ri­ge oft über Jahre hin­weg. Das liegt auch daran, dass das Straf­recht der Per­spek­ti­ve der von einer Straf­tat Be­trof­fe­nen nicht aus­rei­chend Rech­nung trägt, meint Di­plom-So­zi­al­päd­ago­gin Da­nie­la Hirt. 

23. Aug 2024

Sie mo­de­riert im Rah­men von Res­to­ra­ti­ve Ju­sti­ce-Ver­fah­ren Ge­sprächs­krei­se zwi­schen Tä­tern und den von einer Straf­tat Be­trof­fe­nen. Fra­gen zu einer be­son­de­ren Art der Wie­der­gut­ma­chung.

NJW: Sie lei­ten so­ge­nann­te Res­to­ra­ti­ve Ju­sti­ce-Pro­jek­te. Um was han­delt es sich dabei?

Hirt: Der in zahl­rei­chen Vor­schrif­ten an­er­kann­te Täter-Opfer-Aus­gleich (TOA; § 46 II StGB; § 46a StGB; § 153a I 2 Nr. 5 StPO; § 10 I Nr. 7 JGG) sieht eine Mög­lich­keit der Auf­ar­bei­tung von Fol­gen einer Straf­tat mit den tat­be­trof­fe­nen und tat­ver­ant­wort­li­chen Per­so­nen vor. Wenn es je­doch nicht zu einer Ver­ur­tei­lung kom­men konn­te oder die Be­reit­schaft zur Teil­nah­me an einem TOA fehlt, ist eine Auf­ar­bei­tung der Straf­ta­ten zwi­schen den un­mit­tel­bar be­tei­lig­ten Per­so­nen nicht mög­lich. Dies führt dazu, dass sich eine nach­hal­ti­ge Ver­än­de­rung im künf­ti­gen Den­ken und Han­deln der Tat­ver­ant­wort­li­chen durch eine Be­tei­li­gung von Tat­be­trof­fe­nen nicht er­zie­len lässt und sich kri­mi­nel­les Ver­hal­ten fort­setzt. Aus die­sem Grund wurde in meh­re­ren eu­ro­päi­schen Län­dern wie etwa Bel­gi­en, Frank­reich und der Schweiz der Res­to­ra­ti­ve Ju­sti­ce-An­satz im Rah­men des TOA wei­ter­ent­wi­ckelt, um eine Auf­ar­bei­tung von Straf­ta­ten auch ohne die un­mit­tel­bar Tat­be­tei­lig­ten zu er­mög­li­chen. Res­to­ra­ti­ve Ju­sti­ce ist eine Ge­rech­tig­keits­theo­rie, die den Fokus dar­auf legt, Schä­di­gun­gen, die durch kri­mi­nel­les Ver­hal­ten ent­stan­den sind, aus­zu­glei­chen und wie­der­gut­zu­ma­chen.

NJW: Wie gehen Sie dabei vor?

Hirt: Hier ste­hen un­ter­schied­lichs­te Her­an­ge­hens­wei­sen zur Ver­fü­gung, die zur Ver­än­de­rung von Men­schen, Be­zie­hun­gen und der All­ge­mein­heit füh­ren kön­nen. Ana­log dazu wurde für den deut­schen Voll­zugs­kon­text das Res­to­ra­ti­ve Ju­sti­ce-Kon­zept „Be­trof­fe­nen­ori­en­tier­te Ar­beit im Straf­voll­zug (BoAS)“ von mir ent­wi­ckelt. Bei der Um­set­zung in der JVA Bie­le­feld-Brack­we­de wurde deut­lich, dass die­ser An­satz den ge­eig­ne­ten Rah­men bie­tet, um das Be­hand­lungs­an­ge­bot um die Per­spek­ti­ve der Tat­be­trof­fe­nen zu er­gän­zen, wo eine Auf­ar­bei­tung mit den un­mit­tel­bar Tat­be­tei­lig­ten nicht mög­lich ist. Der An­satz von BoAS ver­folgt über den sank­tio­nie­ren­den Grund­ge­dan­ken des Straf­rechts hin­aus das Ziel der Be­frie­dung und der Wei­ter­ent­wick­lung aller Be­tei­lig­ten.

NJW: Wie ge­lingt das?

Hirt: Indem die Re­ha­bi­li­tie­rung von Be­trof­fe­nen einer Straf­tat durch Schaf­fung eines „Mög­lich­keits­raums“ un­ter­stützt wird, in dem die ei­ge­ne Tat­ge­schich­te und die Fol­gen der Tat er­zählt und Fra­gen an die Ge­fan­ge­nen ge­stellt wer­den kön­nen. Zu­gleich un­ter­stützt die Ein­be­zie­hung der von einer Straf­tat Be­trof­fe­nen die Re­so­zia­li­sie­rung von Straf­ge­fan­ge­nen. Erst durch die di­rek­te Be­geg­nung mit den Op­fern und deren Schil­de­rung kön­nen sie wahr­neh­men, füh­len und ver­ste­hen, wel­che schwe­ren Fol­gen eine Straf­tat nach sich zie­hen kann. Die Durch­füh­rung einer Res­to­ra­ti­ve Ju­sti­ce-Maß­nah­me un­ter­streicht die Ver­ant­wort­lich­keit der Ge­fan­ge­nen und er­gänzt die be­reits im Jus­tiz­voll­zug vor­han­de­nen Be­hand­lungs­maß­nah­men. Gleich­zei­tig kon­zen­triert sich der Pro­zess auf die Be­reit­stel­lung von Hil­fe­leis­tun­gen für die durch Straf­ta­ten Ge­schä­dig­ten.

NJW: Al­ler­dings wer­den diese nicht mit dem Täter kon­fron­tiert, son­dern mit je­man­dem, der eine ver­gleich­ba­re Tat be­gan­gen hat. In­wie­fern kann ein Dia­log mit einem Drit­ten, der mit der kon­kre­ten Straf­tat nichts zu tun hat, hel­fen, diese zu be­wäl­ti­gen?

Hirt: Wenn der/die Tat­ver­ant­wort­li­che nicht er­mit­telt wurde oder die Be­reit­schaft zur Teil­nah­me an einem TOA fehlt, ist eine Auf­ar­bei­tung der Straf­ta­ten zwi­schen den un­mit­tel­bar be­tei­lig­ten Per­so­nen nicht mög­lich. Viele Be­trof­fe­ne von Straf­ta­ten möch­ten zudem nicht mit „ihrem“ Täter spre­chen, etwa weil sie eine Ret­rau­ma­ti­sie­rung be­fürch­ten. Sie pro­fi­tie­ren sehr von den Er­zäh­lun­gen eines Ge­fan­ge­nen über sei­nen Wer­de­gang und des­sen de­lin­quen­tes Ver­hal­ten. Eine Be­trof­fe­ne einer Straf­tat sagte in einem Durch­lauf sinn­ge­mäß: „Es ist mir egal, ob das der Straf­tä­ter ist, der mir das an­ge­tan hat. Haupt­sa­che, ich ver­ste­he, wie ein Mensch dazu kommt, an­de­ren etwas an­zu­tun.“

NJW: Wie wer­den die Teil­neh­men­den auf den Grup­pen­dia­log vor­be­rei­tet?

Hirt: In den bis zu fünf vor­be­rei­ten­den Grup­pen­tref­fen für Ge­fan­ge­ne fin­det eine in­ten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit der Mo­ti­va­ti­on zur Teil­nah­me am Pro­jekt, der be­gan­ge­nen Tat(en) und den noch an­dau­ern­den Tat­fol­gen statt. Zur Vor­be­rei­tung auf die ge­mein­sa­men Tref­fen wer­den Be­dürf­nis­se, Fra­gen und Be­fürch­tun­gen er­mit­telt. Ähn­lich lau­fen die bis zu fünf vor­be­rei­ten­den Grup­pen­tref­fen für die von einer Straf­tat Be­trof­fe­nen ab. Dabei fin­det vor allem eine in­ten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Er­le­ben der Tat und deren an­hal­ten­den Fol­gen statt. Bei der Er­mitt­lung ihrer Be­dürf­nis­se, Fra­gen und Ängs­te spielt ins­be­son­de­re die Er­ar­bei­tung von As­pek­ten der in­ne­ren und äu­ße­ren Si­cher­heit eine große Rolle. Dabei kann der Aus­tausch un­ter­ein­an­der hel­fen, aber auch Theo­rie­im­pul­se zu den neu­es­ten Er­kennt­nis­sen der Vik­ti­mo­lo­gie und Kri­mi­no­lo­gie. Dann fol­gen bis zu drei ge­mein­sa­me Grup­pen­tref­fen, der so­ge­nann­te Grup­pen­dia­log.

NJW: Wel­che Rolle spie­len Sie dabei?

Hirt: Als ex­ter­ne, spe­zi­ell aus­ge­bil­de­te Pro­jekt­ko­or­di­na­to­rin steue­re ich den Pro­zess der Res­to­ra­ti­ve Ju­sti­ce im Straf­voll­zug. Dies um­fasst die kon­zep­tio­nel­le Ar­beit, Aus­wahl der Teil­neh­men­den, Ter­min­pla­nung, Struk­tu­rie­rung aller Vor- und Nach­be­spre­chun­gen und die Mo­dera­ti­on aller Grup­pen­sit­zun­gen. Be­glei­tend be­ra­te ich die Fach­diens­te, ko­or­di­nie­re den Pro­jekt­bei­rat und die wis­sen­schaft­li­che Be­glei­tung, un­ter­stüt­ze bei der Ein­bin­dung des (über-)re­gio­na­len Netz­werks sowie der Öf­fent­lich­keits­ar­beit und führe das Be­richts­we­sen ent­spre­chend dem Be­darf der je­wei­li­gen JVA durch.

NJW: Ist jeder Täter bzw. Be­trof­fe­ne ge­eig­net, um an dem Pro­jekt teil­zu­neh­men?

Hirt: An­hand einer So­zi­al­a­na­mne­se und eines spe­zi­fi­schen Fra­ge­bo­gens zu Trau­ma­fol­gen wer­den die Mo­ti­va­ti­on und die psy­chi­sche Sta­bi­li­tät der Ge­fan­ge­nen und der Be­trof­fe­nen von Straf­ta­ten über­prüft. Denn teil­neh­men kön­nen nur Ge­fan­ge­ne, die Ver­ant­wor­tung für ihre Straf­tat über­neh­men, bei denen alle Ver­fah­ren ab­ge­schlos­sen und die psy­chisch sta­bil sind. Die Teil­nah­me von Se­xu­al­straf­tä­tern wird ge­son­dert ge­prüft.

NJW: Was tun Sie, wenn das Ge­spräch in die fal­sche Rich­tung läuft? Muss­ten Sie schon mal ab­bre­chen?

Hirt: Auf­grund der sorg­fäl­ti­gen Aus­wahl der Teil­neh­men­den und der in­ten­si­ven Vor­be­rei­tung muss­ten wir noch nie ab­bre­chen. Wenn je­mand eine Aus­zeit braucht, weil die Emo­tio­nen „hoch­ko­chen“, dann haben wir immer einen Ne­ben­raum, in den eine der Pro­jekt­be­glei­te­rin­nen mit der be­tref­fen­den Per­son gehen kann.

NJW: In­wie­fern pro­fi­tie­ren die Täter von dem Ge­spräch? Ins­be­son­de­re: Sind mit der Teil­nah­me Er­leich­te­run­gen im Straf­voll­zug ver­bun­den?

Hirt: Nein, und das wird sehr klar mehr­fach kom­mu­ni­ziert. Las­sen Sie mich an die­ser Stel­le ein Zitat eines ehe­ma­li­gen Straf­ge­fan­ge­nen aus einem Ra­dio­bei­trag vom SWR vom 12.9.​2023 an­brin­gen: „Nach zehn Jah­ren Haft, ge­schlos­se­ner Voll­zug, war das das erste Mal, dass ich mit Op­fern zu tun hatte, wirk­lich. Das soll­te ei­gent­lich frü­her und öfter statt­fin­den in mei­nen Augen. Das macht Sinn, weil du di­rekt auch damit kon­fron­tiert wirst, mit den Ge­füh­len und Emo­tio­nen des an­de­ren. Und das ist was ganz an­de­res, als ob du über so etwas re­dest […]. Oder das im Ur­teil liest, oder wirk­lich je­mand dir das wirk­lich er­zählt. […]“ Aus mei­ner Sicht ist damit alles ge­sagt.

NJW: Das klingt, als ob Ihr An­satz dem klas­si­schen Täter-Opfer-Aus­gleich über­le­gen ist?

Hirt: Ich würde hier nicht von Über­le­gen­heit spre­chen, son­dern eher von einer gro­ßen Chan­ce, mit Per­so­nen aus der Ge­sell­schaft und Straf­tä­tern über das zu spre­chen, was mir pas­siert ist und unter wel­chen Fol­gen ich noch leide und ge­lit­ten habe. 

Da­nie­la Hirt ist Di­plom-So­zi­al­ar­bei­te­rin/-So­zi­al­päd­ago­gin (FH), sys­te­mi­sche Fa­mi­li­en­the­ra­peu­tin (SG), Trau­ma­päd­ago­gin/trau­ma­zen­trier­te Fach­be­ra­te­rin (DeGPT/BAG-TP) und Fach­kraft für Tä­ter­ar­beit häus­li­che Ge­walt BAG TäHG (FTHG). Sie ar­bei­tet als Pro­jekt­lei­te­rin, Fach­be­ra­te­rin und Fort­bild­ne­rin im Be­reich Res­to­ra­ti­ve Ju­sti­ce im Straf­voll­zug und führt Kurse zur Prä­ven­ti­on von häus­li­cher Ge­walt durch. Wei­ter­füh­ren­de In­for­ma­tio­nen ua zu Res­to­ra­ti­ve Ju­sti­ce fin­den sich unter www.​daniela-​hirt.​com.

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Interview: Monika Spiekermann.