Sie moderiert im Rahmen von Restorative Justice-Verfahren Gesprächskreise zwischen Tätern und den von einer Straftat Betroffenen. Fragen zu einer besonderen Art der Wiedergutmachung.
NJW: Sie leiten sogenannte Restorative Justice-Projekte. Um was handelt es sich dabei?
Hirt: Der in zahlreichen Vorschriften anerkannte Täter-Opfer-Ausgleich (TOA; § 46 II StGB; § 46a StGB; § 153a I 2 Nr. 5 StPO; § 10 I Nr. 7 JGG) sieht eine Möglichkeit der Aufarbeitung von Folgen einer Straftat mit den tatbetroffenen und tatverantwortlichen Personen vor. Wenn es jedoch nicht zu einer Verurteilung kommen konnte oder die Bereitschaft zur Teilnahme an einem TOA fehlt, ist eine Aufarbeitung der Straftaten zwischen den unmittelbar beteiligten Personen nicht möglich. Dies führt dazu, dass sich eine nachhaltige Veränderung im künftigen Denken und Handeln der Tatverantwortlichen durch eine Beteiligung von Tatbetroffenen nicht erzielen lässt und sich kriminelles Verhalten fortsetzt. Aus diesem Grund wurde in mehreren europäischen Ländern wie etwa Belgien, Frankreich und der Schweiz der Restorative Justice-Ansatz im Rahmen des TOA weiterentwickelt, um eine Aufarbeitung von Straftaten auch ohne die unmittelbar Tatbeteiligten zu ermöglichen. Restorative Justice ist eine Gerechtigkeitstheorie, die den Fokus darauf legt, Schädigungen, die durch kriminelles Verhalten entstanden sind, auszugleichen und wiedergutzumachen.
NJW: Wie gehen Sie dabei vor?
Hirt: Hier stehen unterschiedlichste Herangehensweisen zur Verfügung, die zur Veränderung von Menschen, Beziehungen und der Allgemeinheit führen können. Analog dazu wurde für den deutschen Vollzugskontext das Restorative Justice-Konzept „Betroffenenorientierte Arbeit im Strafvollzug (BoAS)“ von mir entwickelt. Bei der Umsetzung in der JVA Bielefeld-Brackwede wurde deutlich, dass dieser Ansatz den geeigneten Rahmen bietet, um das Behandlungsangebot um die Perspektive der Tatbetroffenen zu ergänzen, wo eine Aufarbeitung mit den unmittelbar Tatbeteiligten nicht möglich ist. Der Ansatz von BoAS verfolgt über den sanktionierenden Grundgedanken des Strafrechts hinaus das Ziel der Befriedung und der Weiterentwicklung aller Beteiligten.
NJW: Wie gelingt das?
Hirt: Indem die Rehabilitierung von Betroffenen einer Straftat durch Schaffung eines „Möglichkeitsraums“ unterstützt wird, in dem die eigene Tatgeschichte und die Folgen der Tat erzählt und Fragen an die Gefangenen gestellt werden können. Zugleich unterstützt die Einbeziehung der von einer Straftat Betroffenen die Resozialisierung von Strafgefangenen. Erst durch die direkte Begegnung mit den Opfern und deren Schilderung können sie wahrnehmen, fühlen und verstehen, welche schweren Folgen eine Straftat nach sich ziehen kann. Die Durchführung einer Restorative Justice-Maßnahme unterstreicht die Verantwortlichkeit der Gefangenen und ergänzt die bereits im Justizvollzug vorhandenen Behandlungsmaßnahmen. Gleichzeitig konzentriert sich der Prozess auf die Bereitstellung von Hilfeleistungen für die durch Straftaten Geschädigten.
NJW: Allerdings werden diese nicht mit dem Täter konfrontiert, sondern mit jemandem, der eine vergleichbare Tat begangen hat. Inwiefern kann ein Dialog mit einem Dritten, der mit der konkreten Straftat nichts zu tun hat, helfen, diese zu bewältigen?
Hirt: Wenn der/die Tatverantwortliche nicht ermittelt wurde oder die Bereitschaft zur Teilnahme an einem TOA fehlt, ist eine Aufarbeitung der Straftaten zwischen den unmittelbar beteiligten Personen nicht möglich. Viele Betroffene von Straftaten möchten zudem nicht mit „ihrem“ Täter sprechen, etwa weil sie eine Retraumatisierung befürchten. Sie profitieren sehr von den Erzählungen eines Gefangenen über seinen Werdegang und dessen delinquentes Verhalten. Eine Betroffene einer Straftat sagte in einem Durchlauf sinngemäß: „Es ist mir egal, ob das der Straftäter ist, der mir das angetan hat. Hauptsache, ich verstehe, wie ein Mensch dazu kommt, anderen etwas anzutun.“
NJW: Wie werden die Teilnehmenden auf den Gruppendialog vorbereitet?
Hirt: In den bis zu fünf vorbereitenden Gruppentreffen für Gefangene findet eine intensive Auseinandersetzung mit der Motivation zur Teilnahme am Projekt, der begangenen Tat(en) und den noch andauernden Tatfolgen statt. Zur Vorbereitung auf die gemeinsamen Treffen werden Bedürfnisse, Fragen und Befürchtungen ermittelt. Ähnlich laufen die bis zu fünf vorbereitenden Gruppentreffen für die von einer Straftat Betroffenen ab. Dabei findet vor allem eine intensive Auseinandersetzung mit dem Erleben der Tat und deren anhaltenden Folgen statt. Bei der Ermittlung ihrer Bedürfnisse, Fragen und Ängste spielt insbesondere die Erarbeitung von Aspekten der inneren und äußeren Sicherheit eine große Rolle. Dabei kann der Austausch untereinander helfen, aber auch Theorieimpulse zu den neuesten Erkenntnissen der Viktimologie und Kriminologie. Dann folgen bis zu drei gemeinsame Gruppentreffen, der sogenannte Gruppendialog.
NJW: Welche Rolle spielen Sie dabei?
Hirt: Als externe, speziell ausgebildete Projektkoordinatorin steuere ich den Prozess der Restorative Justice im Strafvollzug. Dies umfasst die konzeptionelle Arbeit, Auswahl der Teilnehmenden, Terminplanung, Strukturierung aller Vor- und Nachbesprechungen und die Moderation aller Gruppensitzungen. Begleitend berate ich die Fachdienste, koordiniere den Projektbeirat und die wissenschaftliche Begleitung, unterstütze bei der Einbindung des (über-)regionalen Netzwerks sowie der Öffentlichkeitsarbeit und führe das Berichtswesen entsprechend dem Bedarf der jeweiligen JVA durch.
NJW: Ist jeder Täter bzw. Betroffene geeignet, um an dem Projekt teilzunehmen?
Hirt: Anhand einer Sozialanamnese und eines spezifischen Fragebogens zu Traumafolgen werden die Motivation und die psychische Stabilität der Gefangenen und der Betroffenen von Straftaten überprüft. Denn teilnehmen können nur Gefangene, die Verantwortung für ihre Straftat übernehmen, bei denen alle Verfahren abgeschlossen und die psychisch stabil sind. Die Teilnahme von Sexualstraftätern wird gesondert geprüft.
NJW: Was tun Sie, wenn das Gespräch in die falsche Richtung läuft? Mussten Sie schon mal abbrechen?
Hirt: Aufgrund der sorgfältigen Auswahl der Teilnehmenden und der intensiven Vorbereitung mussten wir noch nie abbrechen. Wenn jemand eine Auszeit braucht, weil die Emotionen „hochkochen“, dann haben wir immer einen Nebenraum, in den eine der Projektbegleiterinnen mit der betreffenden Person gehen kann.
NJW: Inwiefern profitieren die Täter von dem Gespräch? Insbesondere: Sind mit der Teilnahme Erleichterungen im Strafvollzug verbunden?
Hirt: Nein, und das wird sehr klar mehrfach kommuniziert. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Zitat eines ehemaligen Strafgefangenen aus einem Radiobeitrag vom SWR vom 12.9.2023 anbringen: „Nach zehn Jahren Haft, geschlossener Vollzug, war das das erste Mal, dass ich mit Opfern zu tun hatte, wirklich. Das sollte eigentlich früher und öfter stattfinden in meinen Augen. Das macht Sinn, weil du direkt auch damit konfrontiert wirst, mit den Gefühlen und Emotionen des anderen. Und das ist was ganz anderes, als ob du über so etwas redest […]. Oder das im Urteil liest, oder wirklich jemand dir das wirklich erzählt. […]“ Aus meiner Sicht ist damit alles gesagt.
NJW: Das klingt, als ob Ihr Ansatz dem klassischen Täter-Opfer-Ausgleich überlegen ist?
Hirt: Ich würde hier nicht von Überlegenheit sprechen, sondern eher von einer großen Chance, mit Personen aus der Gesellschaft und Straftätern über das zu sprechen, was mir passiert ist und unter welchen Folgen ich noch leide und gelitten habe.
Daniela Hirt ist Diplom-Sozialarbeiterin/-Sozialpädagogin (FH), systemische Familientherapeutin (SG), Traumapädagogin/traumazentrierte Fachberaterin (DeGPT/BAG-TP) und Fachkraft für Täterarbeit häusliche Gewalt BAG TäHG (FTHG). Sie arbeitet als Projektleiterin, Fachberaterin und Fortbildnerin im Bereich Restorative Justice im Strafvollzug und führt Kurse zur Prävention von häuslicher Gewalt durch. Weiterführende Informationen ua zu Restorative Justice finden sich unter www.daniela-hirt.com.
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