Interview

Neuer Pebb§y-Durch­gang
Interview

Seit fast 20 Jah­ren be­rech­net die Jus­tiz ihren Per­so­nal­be­darf mit Pebb§y. Jetzt hat die Jus­tiz­mi­nis­ter­kon­fe­renz eine neue Vol­l­er­he­bung für die or­dent­li­che Ge­richts­bar­keit und die Staats­an­walt­schaf­ten für das Jahr 2027 be­schlos­sen. Dies haben wir zum An­lass ge­nom­men, mit dem Di­rek­tor des AG Eckern­för­de Dr. Kai Thom­sen über das Kal­ku­la­ti­ons­sys­tem zu spre­chen und ins­be­son­de­re kri­tisch zu hin­ter­fra­gen, ob es ak­tu­el­len Her­aus­for­de­run­gen wie der Di­gi­ta­li­sie­rung und der an­ste­hen­den Pen­sio­nie­rungs­wel­le ge­recht wird.

10. Jul 2024

NJW: Kön­nen Sie uns Au­ßen­ste­hen­den mög­lichst kurz er­klä­ren, wie Pebb§y funk­tio­niert?

Thom­sen: Pebb§y ist im An­satz ganz ein­fach, aber letzt­lich ein sehr kom­ple­xes Sys­tem, um den Per­so­nal­be­darf der Jus­tiz zu er­mit­teln. Es gab Er­he­bun­gen, die Grund­la­ge für die Be­rech­nung von durch­schnitt­li­chen Be­ar­bei­tungs­zei­ten je Ver­fah­ren sind. Das sind bei­spiels­wei­se bei einem Ver­kehrs­un­fall beim Amts­ge­richt 232 Mi­nu­ten. Der Straf­rich­ter be­nö­tigt 157 Mi­nu­ten, um ein nor­ma­les Straf­ver­fah­ren zu ent­schei­den. Aus der tat­säch­li­chen An­zahl der Ver­fah­ren wird mul­ti­pli­ziert mit der durch­schnitt­li­chen Be­ar­bei­tungs­zeit ein Ar­beits­pen­sum er­rech­net. Dem ge­gen­über­ge­stellt wird die so­ge­nann­te Jah­res­ar­beits­zeit. Für einen Rich­ter in Schles­wig-Hol­stein mit einer 41-Stun­den-Woche sind das unter Abzug von Ur­laub und durch­schnitt­li­chen Krank­heits­ta­gen etc. zur­zeit 101.326 Mi­nu­ten. Das alles ins Ver­hält­nis ge­setzt, er­gibt den Per­so­nal­be­darf. Das wird nicht nur für Rich­te­rin­nen und Rich­ter so prak­ti­ziert, son­dern auch für Staats­an­wäl­tin­nen und Staats­an­wäl­te sowie die sons­ti­gen Be­diens­te­ten wie Rechts­pfle­ger und Ge­schäfts­stel­len­mit­ar­bei­ter.

NJW: Bis hier­her hört sich das tat­säch­lich „im An­satz ein­fach an“. Wor­aus folgt die Kom­ple­xi­tät?

Thom­sen: Die folgt aus der gro­ßen An­zahl von Ge­schäf­ten. Al­lein beim Amts­ge­richt sind es über 50, etwa Miet­sa­chen, Ver­kehrs­un­fäl­le, Ehe­sa­chen, Nach­lass­recht und Straf- und Bu­ß­geld­ver­fah­ren. Bei der ge­plan­ten Pebb§y-Neu­er­he­bung wer­den die Er­he­bungs­ge­schäf­te sogar noch klein­tei­li­ger, sie wer­den an­schlie­ßend zu grö­ße­ren so­ge­nann­ten Pro­duk­ten zu­sam­men­ge­fasst, damit das Ganze über­haupt noch hand­hab­bar ist. Es ist ins­ge­samt ein sehr gro­ßes Zah­len­werk.

NJW: Hat es sich aus Ihrer Sicht bis­her be­währt?

Thom­sen: Grund­sätz­lich würde ich sagen: Ja, auf jeden Fall. Die Aus­stat­tung, die wir brau­chen, um ar­bei­ten zu kön­nen, damit die Recht­spre­chung funk­tio­niert, be­kom­men wir über die Le­gis­la­ti­ve und die Exe­ku­ti­ve. Und da ist Pebb§y ein an­er­kann­tes Mit­tel, den Min­dest­be­darf trans­pa­rent dar­zu­le­gen. „100 %-Pebb§y“ ist im po­li­ti­schen Raum ein Qua­li­täts­sie­gel ge­wor­den.

NJW: Die Jus­tiz klagt trotz Pebb§y über Über­las­tung und man­geln­de per­so­nel­len Res­sour­cen. Haben Sie dafür eine Er­klä­rung?

Thom­sen: Pebb§y ist ein Grad­mes­ser. Das Sys­tem sagt: 100 % ist der rich­ti­ge De­ckungs­grad. Über­all dort, wo wir unter 100 % sind, ist die Un­ter­be­set­zung in der Jus­tiz durch Pebb§y be­legt. Das ist aus Sicht der Pra­xis ein wei­te­rer Vor­teil des Mo­dells. Es legt den De­ckungs­grad in den Län­dern offen, und wer unter 100 % liegt, gerät unter einen ge­wis­sen Druck, die drit­te Ge­walt an­ge­mes­sen aus­zu­stat­ten und funk­ti­ons­fä­hig zu hal­ten.

NJW: Was leis­tet Pebb§y nicht?

Thom­sen: Pebb§y bil­det nur den Ist­zu­stand ab. Die Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, die unter Zeit­druck lei­den, schrei­ben wäh­rend der Er­he­bung nur das auf, was sie tat­säch­lich ar­bei­ten. Und nicht das, was sie für eine an­ge­mes­se­ne Be­ar­bei­tung des Ver­fah­rens ei­gent­lich für not­wen­dig hal­ten. Pebb§y bil­det so eben immer „nur“ das Min­dest­maß ab. Und Pebb§y stößt an Gren­zen, je klein­tei­li­ger die Be­dar­fe zu er­mit­teln sind. Es hilft dem Land bei der Be­darfs­er­mitt­lung, und es funk­tio­niert auch noch bei der Ver­tei­lung des Per­so­nals auf die Ge­richts­be­zir­ke. Aber für die ein­zel­nen Ge­rich­te und die dor­ti­ge Ge­schäfts­ver­tei­lung ist es nur ein Ori­en­tie­rungs­punkt.

NJW: Die Jus­tiz­mi­nis­ter­kon­fe­renz hat jetzt für 2027 eine neue Vol­l­er­he­bung be­schlos­sen. Ist das sinn­voll?

Thom­sen: Ja, un­be­dingt, es wird höchs­te Zeit, denn wir sind damit schon au­ßer­halb des üb­li­chen Tur­nus. Ei­gent­lich wäre die nächs­te Vol­l­er­he­bung schon in die­sem Jahr fäl­lig ge­we­sen, was ei­ni­ge Bun­des­län­der auch deut­lich an­ge­merkt haben. Die Er­he­bung ist aber aus nach­voll­zieh­ba­ren Grün­den ver­scho­ben wor­den, weil man zu­nächst die flä­chen­de­cken­de Ein­füh­rung der E-Akte ab­war­ten woll­te. Es hätte wenig Sinn ge­macht, in die­sem Jahr für viel Geld eine Er­he­bung durch­zu­füh­ren, die zwei Jahre spä­ter durch eine teil­wei­se neue Ar­beits­wei­se schon wie­der in re­le­van­ten Tei­len über­holt wäre.

NJW: Wie lange dau­ert eine sol­che Vol­l­er­he­bung?

Thom­sen: Die Er­he­bung selbst soll sechs Mo­na­te dau­ern. An­fang 2028 dürf­ten die Er­geb­nis­se vor­lie­gen, die Ein­füh­rung würde dann zu 2029 er­fol­gen. Die jetzt zu­grun­de lie­gen­den Zah­len aus 2014 sind dann fast 15 Jahre alt. Das macht deut­lich, dass die Zeit­räu­me ei­gent­lich zu lang sind.

NJW: Müss­te man den Zeit­raum von zehn Jah­ren zwi­schen den Vol­l­er­he­bun­gen ver­rin­gern?

Thom­sen: Ei­gent­lich ja, ist aber schwie­rig, weil sehr teuer. Da wir aber der­zeit so viel über Jus­tiz­di­gi­ta­li­sie­rung reden – ei­gent­lich müss­te sich auch die Per­so­nal­be­darfs­er­mitt­lung auf diese Weise ein­fa­cher und güns­ti­ger ge­stal­ten las­sen. Wobei wir etwa bei einer (Teil-) Au­to­ma­ti­sie­rung das Pro­blem des Bench­mar­kings und der Kon­trol­le hät­ten. Letz­te­res ist aus rich­ter­li­cher Sicht un­be­dingt zu ver­mei­den, weil wir an­sons­ten in den sen­si­blen Be­reich der rich­ter­li­chen Un­ab­hän­gig­keit kom­men.

NJW: Pebb§y wurde bei Ein­füh­rung als fort­schrei­bungs­fä­hi­ges Sys­tem an­ge­legt. Ist es noch auf der Höhe der Zeit?

Thom­sen: Je­den­falls die Zah­len sind wie ge­ra­de ge­sagt ver­al­tet. Seit 2014 hat sich viel ver­än­dert. Die Liste wäre lang, ich nenne jetzt nur mal Mas­sen­ver­fah­ren wie Die­sel oder Bei­trags­er­hö­hun­gen bei pri­va­ten Kran­ken­kas­sen. In sol­chen Ver­fah­ren wer­den neben den Land­ge­rich­ten auch die Amts­rich­ter mit Schrift­sät­zen von 50 Sei­ten und mehr zu­ge­wor­fen. Pebb§y geht auch für sol­che Ver­fah­ren noch von einer durch­schnitt­li­chen Be­ar­bei­tungs­zeit von 152 Mi­nu­ten aus. In der Zeit kann man die Schrift­sät­ze noch nicht mal lesen.

NJW: Kriegt man sol­che Aus­rei­ßer nicht zwi­schen den Vol­l­er­he­bungs­zeit­räu­men in den Griff, indem man dort ge­zielt nach­jus­tiert?

Thom­sen: Die klein­tei­li­gen Er­he­bungs­ge­schäf­te er­mög­li­chen es schon, auf Än­de­run­gen zu re­agie­ren. Bei­spiels­wei­se hat man sich bei der Be­treu­ungs­rechts­re­form zu­sam­men­ge­setzt und ge­schaut, in­wie­weit man auf­grund der Neu­re­ge­lun­gen und neuer Auf­ga­ben bei den Per­so­nal­be­dar­fen nach­steu­ern muss. Das sind aber nur kos­me­ti­sche Ein­grif­fe, die nichts daran än­dern, dass die Be­rech­nungs­grund­la­gen ins­ge­samt ver­al­tet sind.

NJW: Pebb§y kann als Per­so­nal­be­darfs­be­rech­nungs­sys­tem auf em­pi­ri­scher Basis keine Aus­sa­gen über künf­ti­ge Per­so­nal­be­dar­fe auf­grund neuer Ge­set­ze bzw. neuer Or­ga­ni­sa­ti­ons­ab­läu­fe und IT-Struk­tu­ren tref­fen. Da lie­gen aber die Her­aus­for­de­run­gen der Zu­kunft, Stich­wor­te: Pen­sio­nie­rungs­wel­le, rück­läu­fi­ge Ab­sol­ven­ten­zah­len, di­gi­ta­le Trans­for­ma­ti­on. Braucht die Jus­tiz ein Tool für die lang­fris­ti­ge und stra­te­gi­sche Per­so­nal­pla­nung?

Thom­sen: Es wäre gut, wenn es so etwas gäbe. Viel­leicht gibt es künf­tig mal ein – mög­li­cher­wei­se KI-ge­stütz­tes – Tool, das so etwas leis­ten kann. Im Mo­ment haben wir das aber nicht. Aber weil Sie die Per­so­nal­be­dar­fe auf­grund neuer Ge­set­ze an­ge­spro­chen haben: Da wäre es schön, wenn sich der Ge­setz­ge­ber künf­tig mehr Ge­dan­ken ma­chen würde, was neue Ge­set­ze und Re­for­men für die Jus­tiz an zu­sätz­li­cher Ar­beit be­deu­ten. Da fehlt es oft an be­last­ba­ren Be­rech­nun­gen bzw. Pro­gno­sen. Das zeigt sich ge­ra­de deut­lich beim Can­na­bis­ge­setz, das einen gan­zen Rat­ten­schwanz an neuen Auf­ga­ben für die Jus­tiz nach sich zieht. Das ist aber eine An­for­de­rung an die Po­li­tik, nicht an Pebb§y.

Dr. Kai Thom­sen ist seit 2000 im schles­wig-hol­stei­ni­schen Jus­tiz­dienst. Nach einer zwi­schen­zeit­li­chen Ab­ord­nung an das Lan­des­jus­tiz­mi­nis­te­ri­um und Tä­tig­keit als Rich­ter am LG Kiel ist er seit 2013 Di­rek­tor des AG Eckern­för­de. Er ist Mit­glied in der Ar­beits­grup­pe Pebb§y des Deut­schen Rich­ter­bun­des und nimmt seit 2004 an den Sit­zun­gen der Kom­mis­si­on der Lan­des­jus­tiz­ver­wal­tun­gen für Fra­gen der Per­so­nal­be­darfs­be­rech­nung „Bun­des­pen­sen­kom­mis­si­on“ teil.

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Interview: Tobias Freudenberg.