Interview
Unverzichtbar für den Sozialstaat
Interview

Als das BSG im September 1954 feierlich eröffnet wurde, hatten die anderen Bundesgerichte ihre Arbeit bereits aufgenommen. Wie bei diesen war auch die erste Richtergeneration in Kassel NS-belastet, wie eine jüngst veröffentlichte Studie herausgearbeitet hat. Über deren Ergebnisse, aber auch über den Anteil der Rechtsprechung des obersten Sozialgerichts in Deutschland an der Formierung unseres Sozialstaats haben wir uns mit der neuen Präsidentin des BSG, Dr. Christine Fuchsloch, unterhalten.

3. Jul 2024

NJW: Ihr Haus hat relativ lang gebraucht, um sich mit seiner Verwurzelung im NS-Staat auseinanderzusetzen. Warum war das bislang kein Thema?

Fuchsloch: Zahlreiche Ministerien, Behörden und Gerichte haben Studien zur NS-Geschichte in Auftrag gegeben, die inzwischen ein umfangreiches Genre geschichtswissenschaftlicher Forschung bilden. Auch unser Forschungsprojekt ist auf den Weg gebracht worden, um sich mit den Ursprüngen des Gerichts zu beschäftigen. Allerdings sind wir keineswegs Nachzügler, sondern im Kreis der anderen obersten Bundesgerichte sogar Vorreiter. Die spannenden Ergebnisse der mehrjährigen Forschungsarbeiten der Historiker Prof. Dr. Marc von Miquel und Dr. Wilfried Rudloff haben wir als erstes Bundesgericht in einem absolut lesenswerten Buch präsentiert. Um die Frühgeschichte unseres Hauses und sein 70-jähriges Bestehen zu würdigen und der Fachöffentlichkeit das Forschungsprojekt zu präsentieren, fand in unserem Haus Mitte Juni unsere alljährliche Richterwoche unter reger Beteiligung in Präsenz und digital statt. Die Autoren haben das Projekt vorgestellt und Bundesminister Hubertus Heil hat eine Festrede gehalten.

NJW: Was können Sie uns zur NS-Verstrickung der ersten Richtergeneration sagen?

Fuchsloch: Nach unseren Erhebungen waren von 62 Richterinnen und Richtern, die bis 1969 zum BSG kamen, elf an nationalsozialistischem Unrecht beteiligt. Die größte Gruppe waren fünf Personen, die an Behörden der zivilen Besatzungsverwaltung im Sozialrecht tätig waren. Hierzu zählte auch der erste Präsident des BSG, Joseph Schneider, der von 1954 bis 1968 im Amt war. Er hatte im sogenannten Reichsprotektorat Böhmen und Mähren die Sektion Sozialversicherung geleitet und verantwortete in dieser Funktion den Rentenentzug bei jüdischen Versicherten maßgeblich.

NJW: Welche Rechtsprechung wurde hauptsächlich für das Forschungsprojekt untersucht?

Fuchsloch: Für die Frühphase der Gerichtsbarkeit haben die Forscher neben den maßgebenden Akteuren die Judikatur zur Kriegsopferversorgung, die Renten- sowie die Krankenversicherung unter die Lupe genommen. Als Historiker haben sie gerade im Versorgungsrecht den Fokus auf die sehr unterschiedlichen Kriegsschicksale gerichtet, die dem Gericht begegneten: von den Angehörigen hingerichteter Widerstandskämpfer bis zu KZ-Wachtmeistern, von den Hinterbliebenen hingerichteter Deserteure bis zu den Familien zum Tod verurteilter Kriegsverbrecher. Und was das Rentenversicherungsrecht angeht, waren grundlegende Entscheidungen zu fällen, etwa zum Eigentumsschutz, zur sozialen Sicherung der Frauen oder zu den Leistungen bei Erwerbsminderung, die bis heute Bedeutung haben und auch die Gesetzgebung beeinflussten. An der Rechtsprechung zum Krankenversicherungsrecht waren insbesondere Umfang und Struktur richterrechtlicher Weiterentwickelung des Leistungsrechts interessant, die immer auch umstritten waren.

NJW: War die Rechtsprechung in den Anfangsjahren durch eine NS-Belastung geprägt?

Fuchsloch: Die Frage nach den Motiven gerichtlicher Entscheidungen ist für die Historiker besonders schwierig zu beantworten. Überlegungen, in welcher Form berufliche Prägungen, individuelle Wertmaßstäbe und richterliche Entscheidungsfindung in einem mit drei Berufs- und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzten Senat ineinandergriffen, können nur Mutmaßungen sein. Die Forscher haben hierzu die Judikatur zur sozialrechtlichen Entschädigung von NS-Verfolgten untersucht. Sie waren aber natürlich nicht in der Lage, das richterliche Beratungsgeheimnis zu lüften. Ihre Quellenlage bestand aus der Befragung von Zeitzeugen und aus Publikationen einiger Bundesrichter zu offenen Fragen der Wiedergutmachung im Sozialrecht. Nur so konnten sie sich der Beantwortung der Frage nach einer Prägung der Rechtsprechung durch NS-Belastung nähern.

NJW: Können Sie uns das anhand eines Beispiels erläutern?

Fuchsloch: Im Forschungsprojekt ist die Rechtsprechung des 1. Senats unter der Überschrift „Die umstrittene Reichweite des Verfolgtengesetzes von 1949“ (S. 286 ff.) untersucht und festgestellt worden, dass dieser Senat eine dezidiert verfolgtenfreundlichere Rechtsprechung als der 4. Senat und auch verschiedener Instanzgerichte hatte. Der 1. Senat trat offensiv dafür ein, dass die Sozialgerichtsbarkeit der durch die Rentenreform von 1957 erfolgten Schlechterstellung der NS-Verfolgten gegenüber der vorangegangenen Rechtslage bis an die Grenzen der Rechtsfortbildung entgegentritt.

NJW: Bestand gleichwohl mit Blick auf die NS-Belastung einiger Richter die Gefahr, dass ideologisch gefärbte Entscheidungen getroffen wurden?

Fuchsloch: Zu diesem Ergebnis sind Rudloff und von Miquel nicht gekommen. Wie die Forschung zum 1. Senat zeigt, war die Rechtsprechung zu Beginn der 1960er Jahre – gemessen am damaligen Recht – sehr positiv für die Opfer von NS-Verfolgten. Vorsitzender des 1. Senats war Joseph Schneider, der bereits erwähnte und durchaus belastete BSG-Präsident. Sein Berichterstatter und Stellvertreter im Senat hieß Norbert Penquitt. Er war ein erfolgreicher Verwaltungsjurist im NS-Staat gewesen, trat 1938 der NSDAP bei und arbeitete am Arbeitswissenschaftlichen Institut der Deutschen Arbeitsfront mit. Nichts an diesem Lebenslauf – so die Forscher – ließ erwarten, dass er für die Rechte von NS-Verfolgten eintrat. Dass er dies gleichwohl tat, zeigten aber auch seine Veröffentlichungen in juristischen Zeitschriften, die – wie die Rechtsprechung – großen Zuspruch bei den Anwälten der Verfolgten in Israel, Großbritannien und den USA fanden.

NJW: Welchen Anteil hat die Rechtsprechung des BSG an der Formierung unseres Sozialstaats?

Fuchsloch: Das BSG hat sich schnell eine überragende Position im System des sozialstaatlichen Rechtsschutzes zu sichern vermocht. Als Wächter über die Verwaltung und Garant von Rechtseinheit, Rechtssicherheit und Rechtsfortbildung hat sich das Gericht große Verdienste erworben. Mit seiner Rechtsprechung konnte das BSG in den letzten 70 Jahren den Veränderungen der Arbeitswelt und Gesellschaft in ihrer Komplexität gerecht werden, um einen funktionsfähigen Sozialstaat zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Als oberstes deutsches Sozialgericht spielt das BSG für den Sozialstaat eine unverzichtbare Rolle.

NJW: Was werden die „großen“ Themen und Fragen Ihrer Amtszeit sein?

Fuchsloch: Mich beschäftigt, wie wir als Justiz den wachsenden Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden; wie können wir unsere Kommunikation noch weiter verbessern, um sozialrechtliche Entscheidungen verständlicher zu machen und – noch weiter gefasst – den Sozialstaat zu erklären? Für künftige Generationen müssen wir uns Gedanken machen zur demografischen Entwicklung in einer alternden Gesellschaft und den Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme. Daneben treten die Herausforderungen der Digitalisierung und der Flexibilisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse. Mit Fragen der Zulässigkeit und Grenzen des Einsatzes künstlicher Intelligenz in gerichtlichen Verfahren oder der Rolle der obersten Bundesgerichte im Rahmen der IT-Konsolidierung des Bundes will ich nur zwei Schlaglichter benennen. Sollte die Kindergrundsicherung eingeführt werden, wird dies neue Aufgaben für die Gerichtsbarkeit mit sich bringen. Und natürlich wird sich auch das BSG im Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeitende auch im nichtrichterlichen Dienst als weiterhin attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren haben.

NJW: Und was haben Sie sich persönlich für Ihre Amtszeit vorgenommen?

Fuchsloch: Ich persönlich möchte versuchen, in meiner Amtszeit die öffentliche Wahrnehmung des Sozialrechts zu verbessern, denn es hat eine herausragende Bedeutung für die Gesellschaft und den Einzelnen in nahezu jeder Lebensphase. 

Mit der gebürtigen Frankfurterin Dr. Christine Fuchsloch steht seit Anfang März erstmals eine Frau an der Spitze des BSG. Davor war sie lange Jahre Präsidentin des LSG Schleswig-Holstein. Seit 1.1.​2021 ist sie Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts.

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Interview: Tobias Freudenberg / Monika Spiekermann.