Interview

Wahl­kampf unter Po­li­zei­schutz?
Nds. StK/Jensen

An­fang Mai prü­geln vier Ju­gend­li­che den SPD-Po­li­ti­ker Mat­thi­as Ecke in Dres­den kran­ken­haus­reif, als die­ser ein Wahl­pla­kat auf­hän­gen woll­te. Die­ser An­griff löste par­tei­über­grei­fend Ent­set­zen aus und war doch nur einer von wei­te­ren tät­li­chen Über­grif­fen auf Po­li­ti­ke­rin­nen und Po­li­ti­ker. Wor­auf lässt sich diese zu­neh­men­de Ge­walt­be­reit­schaft zu­rück­füh­ren, und hel­fen här­te­re Stra­fen sowie eine schnel­le­re Ver­ur­tei­lung ins­be­son­de­re der ju­gend­li­chen Straf­tä­ter? Über die­ses Thema haben wir uns mit dem nie­der­säch­si­schen Mi­nis­ter­prä­si­den­ten Ste­phan Weil (SPD) un­ter­hal­ten.

12. Jun 2024

NJW: Herr Mi­nis­ter­prä­si­dent, Sie haben schon di­ver­se Wahl­kämp­fe ge­führt, sind auf vie­len po­li­ti­schen Ver­an­stal­tun­gen auf­ge­tre­ten. Wur­den Sie oder Ihre Mit­ar­bei­ter im Zuge der­ar­ti­ger Auf­trit­te schon mal an­ge­grif­fen?

Weil: Tät­li­che An­grif­fe haben meine Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter oder ich zum Glück noch nicht er­le­ben müs­sen. Als Mi­nis­ter­prä­si­dent werde ich aber ja auch von Si­cher­heits­kräf­ten gut ge­schützt. Das ist bei an­de­ren Grup­pen von Po­li­ti­kern an­ders. Un­längst ist eine Land­tags­kol­le­gin von den Grü­nen in Göt­tin­gen im Eu­ro­pa­wahl­kampf tät­lich an­ge­grif­fen wor­den. Auch Kom­mu­nal­po­li­ti­ke­rin­nen und Kom­mu­nal­po­li­ti­ker wer­den lei­der häu­fig sehr hef­tig be­lei­digt und auch be­droht. Sorge be­rei­ten mir zudem die immer zahl­rei­che­ren Über­grif­fe auf Po­li­zei- und Ret­tungs­kräf­te. Wir er­le­ben eine er­schre­cken­de Ver­ro­hung in Tei­len un­se­rer Ge­sell­schaft.

NJW: War frü­her in­so­weit „alles bes­ser“, und haben Sie eine Er­klä­rung für diese Zu­nah­me der Ge­walt spe­zi­ell gegen Po­li­ti­ker?

Weil: Na­tür­lich war frü­her nicht alles bes­ser, aber der Ton hat sich spür­bar ge­än­dert. Ich habe den Ein­druck, dass die immer här­te­ren ver­ba­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen in den so­zia­len Me­di­en, die un­ge­zü­gel­te Ge­walt in vie­len Com­pu­ter­spie­len und lei­der auch eine Ra­di­ka­li­sie­rung aus der Co­ro­na-Zeit her­aus dazu große Bei­trä­ge ge­leis­tet haben. Und die Fol­gen ma­chen dann auch vor tät­li­chen An­grif­fen auf Po­li­ti­ke­rin­nen und Po­li­ti­ker nicht Halt.

NJW: Sind der­ar­ti­ge An­grif­fe auch ein An­griff auf un­se­re De­mo­kra­tie? Oder an­ders for­mu­liert: Wie ge­fähr­lich sind Men­schen, die Po­li­ti­ker und Wahl­kämp­fer an­grei­fen, für die De­mo­kra­tie?

Weil: Un­se­re De­mo­kra­tie funk­tio­niert nur, wenn sich Men­schen po­li­tisch en­ga­gie­ren, wenn sie über die Par­tei­en an der Wil­lens­bil­dung des Vol­kes mit­wir­ken und dabei auch öf­fent­lich auf­tre­ten – sei es am Wahl­kampf­stand oder in Ver­samm­lun­gen oder ein­fach nur durch das Auf­hän­gen von Pla­ka­ten oder durch Posts im Netz. Nur mit ihrer Hilfe kön­nen dann mög­lichst gut in­for­mier­te Bür­ge­rin­nen und Bür­ger über die Wah­len ent­schei­den, wer die Ge­set­ze macht und wer unser Land re­giert. Un­se­re De­mo­kra­tie braucht all die Ehren- und die Haupt­amt­li­chen, die in den Wahl­kämp­fen mit­hel­fen und etwa bei Kom­mu­nal­wah­len kan­di­die­ren. Wir dür­fen es nicht zu­las­sen, dass Men­schen, die sich mit viel Zeit und Herz­blut für un­se­re Ge­sell­schaft ein­set­zen, ein­ge­schüch­tert wer­den. In­so­fern sind sol­che An­grif­fe in der Tat An­grif­fe auf un­se­re De­mo­kra­tie!

NJW: Wenig über­ra­schend wurde nach den An­grif­fen unter an­de­rem auf Ihre Par­tei­kol­le­gen Mat­thi­as Ecke und Fran­zis­ka Gif­fey er­neut der Ruf nach här­te­ren und vor allem schnel­le­ren Stra­fen laut. Würde das tat­säch­lich hel­fen?

Weil: Da kommt es mei­nes Er­ach­tens dar­auf an, wor­über wir reden. Straf­bar­keits­lü­cken sehe ich ei­gent­lich nicht, und auch der Straf­rah­men ist in Ord­nung. Über die Straf­zu­mes­sung müs­sen wir aber nach­den­ken. Ich per­sön­lich finde den Vor­schlag rich­tig, ein straf­schär­fen­des Straf­zu­mes­sungs­kri­te­ri­um „de­mo­kra­tie­feind­li­che Ge­sin­nung“ in § 46 II StGB auf­zu­neh­men. Über die De­tails kann man immer reden, aber es muss klar sein, dass wir eine wehr­haf­te De­mo­kra­tie sind. Noch wich­ti­ger aber sind auf­merk­sa­me Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­ger, die bei sol­chen Vor­fäl­len ein­grei­fen, mög­lichst ohne sich selbst zu ge­fähr­den, oder die die Po­li­zei rufen. Und dann müs­sen sol­che Taten schnell auf­ge­klärt und kon­se­quent sank­tio­niert wer­den, das ist Auf­ga­be von Po­li­zei, Staats­an­walt­schaf­ten und un­ab­hän­gi­gen Ge­rich­ten.

NJW: Sind das die ein­zi­gen Mög­lich­kei­ten, die der Rechts­staat hat, um auf der­ar­ti­ge An­grif­fe zu re­agie­ren?

Weil: Zu einem gut funk­tio­nie­ren­den De­mo­kra­tie- und Rechts­staat ge­hört auch gute po­li­ti­sche Bil­dung. Wir müs­sen schon in den Schu­len und Ju­gend­ein­rich­tun­gen dafür mehr tun. Kin­der und Ju­gend­li­che brau­chen auch eine gute di­gi­ta­le Bil­dung, um mit den so­zia­len Me­di­en um­sich­tig um­ge­hen zu kön­nen. Und sie müs­sen von der Kita bis zum Ab­itur immer wie­der ler­nen, dass Ge­walt nie ak­zep­tiert wer­den darf – nicht im pri­va­ten und nicht im ge­sell­schaft­li­chen Um­feld. Dazu brau­chen sie unter an­de­rem gute Vor­bil­der, von denen sie ler­nen, Kon­flik­te ge­walt­frei zu lösen. Das ist dann un­se­re Auf­ga­be als Er­wach­se­ne.

NJW: Viel­fach stam­men die Täter aus der rechts­ex­tre­men Szene. Sehen Sie hier Ver­säum­nis­se? Ins­be­son­de­re: Warum ist man in der Ver­gan­gen­heit gegen diese Szene nicht kon­se­quen­ter vor­ge­gan­gen?

Weil: Nach mei­nem Ein­druck ist unser recht­li­ches In­stru­men­ta­ri­um aus­rei­chend. Und ich hoffe, dass in­zwi­schen viele po­li­tisch und ju­ris­tisch Ver­ant­wort­li­che be­grif­fen haben, dass es ge­ra­de bei rechts­ex­tre­men Äu­ße­run­gen wich­tig ist, früh­zei­tig sehr kon­se­quent zu re­agie­ren. Aber Straf­recht und Straf­ver­fol­gung sind auch hier nicht alles. Wir alle müs­sen uns ein­mi­schen, plum­pen Schuld­zu­wei­sun­gen gegen Mi­gran­tin­nen und Mi­gran­ten ve­he­ment wi­der­spre­chen und uns aktiv für eine bunte und viel­fäl­ti­ge Ge­sell­schaft ein­set­zen. Das ist in allen Tei­len der Ge­sell­schaft not­wen­dig, wie uns zum Bei­spiel die Vor­gän­ge be­wei­sen, die vor Kur­zem von Sylt und aus Lö­nin­gen be­rich­tet wor­den sind.

NJW: Ihre Par­tei­kol­le­gin, In­nen­mi­nis­te­rin Nancy Fae­ser, hat nach den jüngs­ten An­grif­fen auf Po­li­ti­ker au­ßer­dem „sicht­ba­re Po­li­zei­prä­senz“ im Wahl­kampf ver­spro­chen. Hand aufs Herz: Hat die Po­li­zei etwa in Nie­der­sach­sen dafür über­haupt aus­rei­chen­de per­so­nel­le Ka­pa­zi­tä­ten?

Weil: Ja, die hat sie, wenn es um grö­ße­re Ver­an­stal­tun­gen geht. Aber auch eine noch so gut aus­ge­stat­te­te Po­li­zei könn­te si­cher­lich nicht alle Hel­fe­rin­nen und Hel­fer schüt­zen, die etwa vor den Eu­ro­pa-Wah­len un­ter­wegs waren und noch un­ter­wegs sind.

NJW: Rächt sich nun, dass in die­sem Be­reich in der Ver­gan­gen­heit zu viel ge­spart wurde? Ge­ra­de im Zu­sam­men­hang mit der Po­li­zei heißt es ja immer wie­der, diese werde „ka­putt­ge­spart“?

Weil: Je­den­falls in Nie­der­sach­sen haben wir im Be­reich der Po­li­zei in den letz­ten Jah­ren kei­nes­falls ge­spart, son­dern im Ge­gen­teil zu­sätz­li­che Stel­len ge­schaf­fen. Und mehr Po­li­zei al­lei­ne löst die Pro­ble­me nun ein­mal nicht, die uns der­zeit um­trei­ben.

NJW: Ein Wahl­kampf unter Po­li­zei­schutz ist in einer De­mo­kra­tie nur schwer vor­stell­bar. Steht gleich­wohl zu be­fürch­ten, dass wir uns künf­tig daran ge­wöh­nen müs­sen?

Weil: Ich hoffe nicht, aber ich fürch­te, dass auf ab­seh­ba­re Zeit ein in­ten­si­ve­rer Po­li­zei­schutz bei grö­ße­ren Wahl­kampf­ver­an­stal­tun­gen not­wen­dig sein wird. Aber auch hier gilt: Über­las­sen wir den Stö­rern nicht das Feld! Es ist heute wich­ti­ger denn je, dass ganz nor­ma­le, fried­li­che Men­schen sich für Po­li­tik in­ter­es­sie­ren und viel­leicht ein­fach auch mal hin­ge­hen und den­je­ni­gen ihre So­li­da­ri­tät zei­gen, die für ver­nünf­ti­ge po­li­ti­sche Pro­gram­me Wahl­pla­ka­te auf­hän­gen oder an Wahl­stän­den ste­hen.

Seit Fe­bru­ar 2013 lenkt der Ju­rist Ste­phan Weil (SPD) als Mi­nis­ter­prä­si­dent die Ge­schi­cke des Lan­des Nie­der­sach­sen. Sein Ju­ra­stu­di­um ab­sol­vier­te er an der Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen; nach dem Zwei­ten Staats­ex­amen war er zu­nächst rund zwei Jahre als An­walt in Han­no­ver tätig, ab 1989 als Staats­an­walt und Rich­ter, zum Teil unter Ab­ord­nung an das nie­der­säch­si­sche Jus­tiz­mi­nis­te­ri­um. Dort­hin wech­sel­te er 1994 als Mi­nis­te­ri­al­rat. Drei Jahre spä­ter über­nahm er den Pos­ten des Stadt­käm­me­rers von Han­no­ver, den er bis Ende Ok­to­ber 2006 in­ne­hat­te. Von 1.11.​2006 bis Ja­nu­ar 2013 war er Ober­bür­ger­meis­ter der Lei­ne­stadt. Am 19.2.​2013 wurde er zum Mi­nis­ter­prä­si­den­ten ge­wählt. Seine Wie­der­wahl er­folg­te am 22.11.​2017 sowie am 8.11.​2022. Weil ist unter an­de­rem Vor­sit­zen­der des Ku­ra­to­ri­ums der Ro­bert-Enke-Stif­tung und An­hän­ger von Han­no­ver 96.

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Interview: Monika Spiekermann.