Interview
Videoverhandlungen sind Gerichtsalltag
Interview

Gerade haben sich Bund und Länder informell über ein Gesetz zur Förderung der Videokonferenztechnik in den Gerichten verständigt. Richter am LG Dr. Christian Schlicht hat mit Mitstreitern das Informationsportal www.videoverhandlung.de ins Leben gerufen, das mit Informationen und Austausch zur Förderung von Videoverhandlungen beitragen will.

5. Jun 2024

NJW: Was verbirgt sich hinter dem Portal videoverhandlung.de?

Schlicht: Es handelt sich um eine Informationsseite, die von dem Informatiker Philipp Mayr programmiert wurde und dank Mathias Schuh von dem studentischen Thinktank recode law unterstützt wird. Universitär wird das Projekt durch Prof. Dr. Simon Heetkamp begleitet. Ich habe die Richterperspektive beigesteuert. Videoverhandlungen gehören nach meiner Einschätzung in Nordrhein-Westfalen zum Gerichtsalltag. Es gibt aber noch gravierende Unterschiede, was die Erfahrungen mit Videoverhandlungen bei Teilen der Anwaltschaft und Rechtsuchenden betrifft. Im Internet gibt es nur wenige Informationen zur Ausstattung von Gerichten mit Videokonferenztechnik und Zahlen zur Anzahl von Videoverhandlungen. Auch im Rahmen des aktuellen Gesetzgebungsverfahrens zur Videoverhandlung wurden die Ausstattung der Gerichte und die Einstellung „der Richterschaft“ zu Videoverhandlungen sehr unterschiedlich beurteilt.

NJW: Wie viele Gerichte sind schon mit Angaben hinterlegt?

Schlicht: Es sind bereits bei 441 Gerichten Daten zur Videoverhandlung von Nutzerinnen und Nutzern hinterlegt worden. Das entspricht etwa 40 % der Zivilgerichte in Deutschland. Wöchentlich kommen mehr Daten zur technischen Ausstattung der Gerichte sowie zu den durchgeführten bzw. abgelehnten Videoverhandlungen hinzu. Aktuell ist es aber noch zu früh, belastbare Schlüsse aus den Daten zu ziehen.

NJW: Überprüfen Sie die Identität der Bewertenden, und wenn ja – wie?

Schlicht: Es gibt zwei Möglichkeiten, sich zu beteiligen: Jede Person kann ohne Registrierung bei einem Gericht angeben, ob eine beantragte Videoverhandlung gestattet oder abgelehnt wurde. Falls sie gestattet wurde, kann die technische Qualität bewertet, anderenfalls kann der Ablehnungsgrund genannt werden. Nur registrierte Nutzerinnen und Nutzer haben die Möglichkeit, weitere Angaben zur Hard- und Software zu machen oder etwas im Freitextfeld zu schreiben. Die Identität wird einzelfallbezogen überprüft, etwa aufgrund der E-Mail-Adresse, wenn es sich um Kanzlei-, Behörden- oder Gerichtsadressen handelt. Vereinzelt muss man zum Telefonhörer greifen.

NJW: Wie viele „Rezensenten“ haben sich bislang beteiligt?

Schlicht: Stand heute haben wir 12.946 Eintragungen. 235 davon stammen von registrierten Nutzerinnen und Nutzern.

NJW: Was sind die typischen Teilnehmer – Rechtsanwälte oder Richter? Können auch beispielsweise betroffene Bürger oder Mitglieder der Justizverwaltung mitmachen?

Schlicht: Diese Frage lässt sich nicht abschließend beantworten. Anhand der Registrierungen können wir sagen, dass sich bisher überwiegend Anwältinnen und Anwälte beteiligen, aber auch einige Personen aus Gerichten und Behörden einen Account angelegt haben und ihre Erkenntnisse zu den lokalen Gegebenheiten mitteilen. Hier besteht Verbesserungsbedarf. Es wäre wünschenswert, wenn durch die Teilnahme von vielen – möglichst registrierten – Personen ein umfassenderes Bild gewonnen werden könnte.

NJW: Was sind die häufigsten Themen?

Schlicht: Die Seite dient nicht dazu, sich allgemein über Videoverhandlungen auszutauschen. Es gibt, wie erwähnt, vorgegebene Abfragemasken. Soweit registrierte Nutzer in einem Freitext weitere Angaben machen können, geht es auch dort um die Konkretisierung der technischen Qualität und Ausstattung.

NJW: Überwiegt Kritik oder Lob, und unterscheiden sich da die Berufsgruppen?

Schlicht: Die bisher gemachten Angaben sind sachlich und beschreibend. Das entspricht auch der Idee des Portals. Anders ist dies zuweilen in sozialen Netzwerken oder auf Google-Seiten der Gerichte, wo regelmäßig Ablehnungen von Anträgen auf Videoverhandlungen gepostet und negativ dargestellt werden. Dadurch entsteht ein verzerrtes Bild über die Wirklichkeit und Akzeptanz von Videoverhandlungen. Anhand einzelner Freitextantworten lässt sich entnehmen, dass es an vielen Gerichten deutlich besser läuft, als die öffentliche Wahrnehmung es suggeriert. Mittelfristig werden wir ein detailliertes Bild erhalten, das dann näherer Betrachtung und Auswertung bedarf.

NJW: Es dürfen nur die technische Ausstattung und Qualität kommentiert werden, nicht aber Verfahrensleitung und Qualität der Rechtsprechung?

Schlicht: Das ist richtig und sehr wichtig. Das Portal soll allen Beteiligten einen Überblick bieten, wo sie die Möglichkeit haben, Videoverhandlungen durchzuführen und an welchen Punkten noch Herausforderungen liegen. Da alle Angaben durch uns vorab geprüft werden, werden auch nur Beiträge zu technischen Aspekten veröffentlicht. An dieser Stelle muss ich auch betonen, dass die Ablehnung einer Videoverhandlung nicht per se etwas Negatives ist. Es gibt sehr gute Gründe, warum Videoverhandlungen abgelehnt werden, etwa weil ein solches Vorgehen rechtlich unzulässig ist oder sich das Verfahren hierfür nicht eignet. In vielen Fällen kommt es auf den unmittelbaren persönlichen Eindruck von einer Partei oder einer Zeugin im Gerichtssaal an.

NJW: Wie viele Gerichte gibt es nach Ihrer Einschätzung überhaupt noch, die keine oder jedenfalls keine ausreichende technische Ausstattung für Videoverhandlungen haben?

Schlicht: Diese Frage kann Ihnen in Deutschland vermutlich niemand beantworten, da diese Daten nicht zentral erfasst werden. Für die weitere Fachdiskussion halte ich es aber für unerlässlich, dass der Gesetzgeber, die Richterschaft, die Anwaltschaft und weitere Beteiligte datenbasiert über die weitere Förderung der Videoverhandlung miteinander sprechen.

NJW: Wie steht nach Ihrem Eindruck die Richterschaft zur Nutzung der Videotechnik: Gibt es da viel Ablehnung insbesondere unter Ihren älteren Kollegen?

Schlicht: Meine unmittelbaren Erfahrungen beschränken sich auf das Landgericht Köln, das mit über 200 Richterinnen und Richtern eines der größten Landgerichte Deutschlands ist. Dort war der ganz überwiegende Teil der Kolleginnen und Kollegen zu Beginn der Corona-Pandemie überaus aufgeschlossen und hat es sehr begrüßt, dass das Justizministerium uns umgehend mit Videokonferenztechnik versorgt hat. Die allermeisten sind dabeigeblieben. Für Berufsanfänger gehört die Videoverhandlung nach meinem Eindruck zum Standardrepertoire – wie gesagt, wenn es sich im konkreten Verfahren anbietet. Auch viele dienstältere Kolleginnen und Kollegen haben sich von Anfang an aufgeschlossen gezeigt und nutzen diese Möglichkeit. Dieser Eindruck wird auch im bundesweiten Austausch bei unseren Veranstaltungen der „digitalen richterschaft“ zu Videoverhandlungen bestätigt.

NJW: Beim Gesetz zur Förderung von Videokonferenztechnik in den Gerichten hat es kürzlich eine Einigung gegeben – versprechen Sie sich davon Verbesserungen?

Schlicht: Oft sind es kleine Stellschrauben, mit denen man viel bewirken kann. Hiervon enthält das Gesetz erfreulicherweise einige. Es sieht zum Beispiel vor, dass bereits in der Klageschrift dazu Stellung genommen werden soll, ob eine Videoverhandlung gewünscht ist. Hierdurch kann das Gericht frühzeitig die richtigen Weichen bei der Prozessleitung stellen. Heute kommt es noch viel zu häufig vor, dass Anträge erst sehr kurzfristig vor dem Termin gestellt und die organisatorischen Vorkehrungen dann nicht mehr getroffen werden können, obwohl sich das Verfahren im Grunde für eine Videoverhandlung eignet. Der größte Hebel zur Förderung der Videoverhandlung wird aber nach wie vor sein, intuitiv zu bedienende Technik in angemessener Qualität zur Verfügung zu stellen und die Richterschaft technisch und organisatorisch zu unterstützen. Erfreulicherweise gibt es auch auf dieser Ebene weitere Fortschritte, etwa durch die Entwicklung des bundesweiten Videoportals der Justiz (VdJ).

Dr. Christian Schlicht ist Richter am Landgericht. Er setzt sich beruflich und privat für die weitere Digitalisierung der Justiz ein. Er hat die „digitale richterschaft“, ein Forum zum Austausch über Digitalthemen in der Justiz (www.digitale-richterschaft.de), mit initiiert. Seine Antworten geben allein seine persönliche Ansicht wieder.

Dieser Inhalt ist zuerst in der NJW erschienen. Sie möchten die NJW kostenlos testen? Jetzt vier Wochen gratis testen inkl. Online-Modul NJWDirekt

Interview: Joachim Jahn.