NJW: Das CanG sieht neben der Teillegalisierung des Besitzes und des Konsums von Cannabis auch eine Amnestie für bestimmte Fälle vor. Was genau ist darin geregelt und welche Fälle werden davon erfasst?
Engel: Kurz gefasst, bestimmt das CanG durch den neuen Art. 316p EGStGB, dass vor dem 1.4.2024 verhängte, aber noch nicht vollständig vollstreckte Strafen für Taten nach dem BtMG, die nach neuem Recht nicht mehr strafbar oder mit Geldbuße bedroht sind, erlassen werden. In vielen weiteren Fällen muss das Gericht die Strafe neu festsetzen. So, wenn durch eine Tat mehrere Straftatbestände verletzt worden sind, von denen durch das CanG einer entfallen ist, und bei Gesamtstrafen, wenn eine Tat durch das CanG straflos gestellt worden ist.
NJW: Über wie viele Altfälle sprechen wir hier?
Engel: Für ganz Deutschland lässt sich das noch nicht beziffern. Allein in Nordrhein-Westfalen sind rund 86.000 Vorgänge händisch durchsucht worden, wobei bereits über 9.000 Fälle identifiziert worden sind.
NJW: Was bedeutet die Amnestie für die vor dem 1.4. Verurteilten? Können sie, je nach Strafmaß, mit einer Haftentschädigung oder mit Schadensersatz für eingezogene und vernichtete Hanfpflanzen rechnen?
Engel: Für die Verurteilten bedeutet die Amnestie vor allem, dass sie Strafen nicht mehr bezahlen oder verbüßen müssen. Haftentschädigungen hingegen sind nach – von mir geteilter – Ansicht der Bundesregierung unwahrscheinlich, da unter anderem die Voraussetzungen einer solchen Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen nicht vorliegen dürften. Einziehungen sind zudem durch Art. 313 EGStGB ausdrücklich von der Amnestie ausgenommen, so dass auch kein Schadensersatz für eingezogene Pflanzen zu leisten ist.
NJW: Die Strafjustiz fühlt sich bereits jetzt von der Umsetzung der Amnestie überfordert. Woran liegt das?
Engel: Nach meiner Wahrnehmung ist es zum einen die Masse der aufgrund der Amnestie zu sichtenden Verfahren, die solche Gefühle angesichts ohnehin deutlich gestiegener Eingangszahlen bei den Staatsanwaltschaften auslösen kann. Zum anderen ist auch die Prüfung der Voraussetzungen der Amnestie alles andere als trivial. Denn es werden ja ausschließlich solche Fälle erfasst, in denen das zuvor strafbare Verhalten jetzt keine Straftat oder Ordnungswidrigkeit mehr darstellt – durch das CanG selbst sind aber eine Vielzahl von weiterhin strafbaren oder durch Geldbußen sanktionierte Ausnahmen von dem straflos gestellten Besitz und Anbau zum Eigenkonsum eingeführt worden.
NJW: Lassen sich die relevanten Verfahren nicht mithilfe einer elektronischen Suche identifizieren?
Engel: Nein, eine präzise Filterung ist nicht möglich. Das NRW-Justizministerium hat den Staatsanwaltschaften seines Landes zwar durch sogenannte Impromptu-Abfragen dabei geholfen, einschlägige Verfahren datenbankgestützt zu identifizieren. Solche Abfragen können sich jedoch mangels vorheriger Erfassung der Drogenart in den Datenbanken allein auf Kriterien wie „Straftat nach § 29 BtMG“ oder „nicht vollstreckte Gesamtstrafe“ beziehen. Dementsprechend ist im Anschluss immer eine händische Prüfung der Akte erforderlich, um festzustellen, ob sie Cannabis betrifft. Allein in NRW betrifft dies, wie schon angesprochen, mehr als 86.000 Verfahren.
NJW: Was bedeutet das ganz praktisch?
Engel: Servicekräfte müssen die Akten aus Lagerräumen oder Regalen holen und ihre Vorlage an die Dezernentinnen und Dezernenten elektronisch dokumentieren. Wachtmeisterinnen und Wachtmeister müssen die Akten durch die Behörden tragen und vorlegen. Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ebenso wie Amtsanwältinnen und Amtsanwälte nehmen anschließend die Prüfung vor, dokumentieren sie und veranlassen ggf. die Vorlage an Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger oder das Gericht. Schon diese Vorlage und Sichtung beschäftigt die Staatsanwaltschaften aufgrund der enormen Masse seit Monaten intensiv.
NJW: Kritiker halten die Klagen der Strafjustiz für übertrieben bzw. die damit einhergehenden Probleme für hausgemacht. Ist da was dran?
Engel: Bei den Kritikern waren nach meiner Wahrnehmung vor allem zwei Dinge augenfällig: Entweder handelte es sich nicht um Justizpraktiker oder, wenn sie es ausnahmsweise doch waren, zugleich um Mitglieder von Interessenverbänden, die sich bereits seit längerem für eine Cannabislegalisierung ausgesprochen hatten und daher die in der Schlussphase des Gesetzgebungsverfahrens aufkommende Debatte über die Amnestie offenkundig im Keim ersticken wollten. So wurden von Kritikern etwa die Zahlen der zu prüfenden Verfahren fälschlich nach unten korrigiert, indem die Haftstatistik als alleinige Grundlage für die Sichtung angeführt wurde. In der Justiz sind diese „Nebelkerzen“ als solche wahrgenommen worden und haben für Verstimmung gesorgt. Ein Wort noch zu der Behauptung, die Probleme seien „hausgemacht“, etwa weil die Justiz die Digitalisierung „verschlafen“ habe. Auch das ist, mit Verlaub, Unfug. Das entsprechende Bundesgesetz sieht die Einführung der elektronischen Akte in der Strafjustiz bis Anfang 2026 vor. Die Länder bereiten diese intensiv vor, es handelt sich aber um einen noch laufenden, technisch wie organisatorisch überaus anspruchsvollen Prozess.
NJW: Wenn wir es richtig sehen, war die Amnestieregelung während des ansonsten hitzig diskutierten Gesetzgebungsverfahrens kein Aufregerthema. Warum wurde ihr, wohl auch im Rahmen der Expertenanhörungen, so wenig Bedeutung beigemessen?
Engel: Zu vermuten ist, dass die sehr kontrovers geführte Debatte über die Frage der Legalisierung „an sich“ und deren etwaige Details so viel Aufmerksamkeit gebunden haben, dass die „Sprengkraft“ der Amnestie zunächst nicht in den Fokus geraten ist. Festzustellen ist aber, dass die Länder durch den Bundesrat bereits Ende September 2023 überaus deutlich Stellung gegen die Amnestie und ihre Umsetzbarkeit durch die Justiz bezogen haben, ohne dass dies dem Bundesgesetzgeber Anlass gegeben hat, Änderungen vorzunehmen.
NJW: Musste sie überhaupt bzw. zwingend mit dem jetzigen Inhalt in das CanG aufgenommen werden?
Engel: Nein, einer Amnestie hätte es (verfassungs-)rechtlich nicht zwingend bedurft. Bereits der Bundesrat hatte aus guten Gründen die ersatzlose Streichung der Regelung gefordert. Eine Amnestie dieses Umfangs ist, soweit mir bekannt, in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig. Der Rechtsstaat stellt sich mit dieser rückwirkenden Gesetzeskorrektur unnötig selbst infrage. Jedenfalls hätte es unbedingt einer Übergangsregelung bedurft.
NJW: Müssen Ihre Kolleginnen und Kollegen nun die Suppe auslöffeln, die Ihnen der Gesetzgeber eingebrockt hat, oder sehen Sie eine Lösung für das Dilemma?
Engel: Die Strafjustiz hat beschlossene Gesetze umzusetzen und die Entscheidungen des Gesetzgebers zu akzeptieren. Staatsanwaltschaften und Strafgerichte erledigen daher selbstverständlich die ihnen mit dem CanG aufgegebene Arbeit. Für die Akzeptanz innerhalb der Justiz wäre es allerdings hilfreich, wenn der Gesetzgeber Bedenken aus der Praxis in Zukunft ernster nähme. Tätigkeiten innerhalb der Justiz leben von „Sinnstiftung“ – das CanG ist nicht gerade ein Musterbeispiel auf der Suche danach.
Oberstaatsanwalt Tim Engel ist Hauptabteilungsleiter Wirtschaftskriminalität bei der Staatsanwaltschaft Köln. Zuvor war er nach Stationen als Richter (im Laufbahnwechsel) am LG Hagen, bei der Staatsanwaltschaft Essen und der Generalstaatsanwaltschaft Hamm drei Jahre als Referent und Referatsleiter im nordrhein-westfälischen Justizministerium unter anderem zuständig für Wirtschaftsstrafrecht, Organisierte Kriminalität und Cybercrime.
Anfang Mai teilte Landesjustizminister Benjamin Limbach (Grüne) mit, dass Tim Engel in der Staatsanwaltschaft Köln Nachfolger von Anne Brorhilker als Chefermittler für Cum-Ex-Fälle wird. Mit diesem Themenkomplex war er schon während seiner Zeit im Ministerium intensiv befasst.
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