Interview
Überregulierter Sozialstaat
Interview
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© Franz Josef

Unsere Verfassung bekennt sich zum Sozialstaat. Doch dies stellt sich immer mehr als Lippenbekenntnis dar, führen doch ein unübersichtliches und kompliziertes Geflecht von Sozialleistungen sowie ein immenser Verwaltungsaufwand dazu, dass diese ihre Zielgruppe oft nicht erreichen, meint der Nationale Normenkontrollrat. Er hat Ende März ein Gutachten mit Empfehlungen für die Zukunft der Sozialleistungen veröffentlicht. Beides haben wir uns mit dem Paderborner Fachanwalt für Sozialrecht Nikolaos Penteridis genauer angesehen.

8. Mai 2024

NJW: Der Nationale Normenkontrollrat kritisiert unser Sozialleistungssystem insbesondere als zu bürokratisch. Wie sehen Sie das?

Penteridis: Diese Kritik ist in vielen Bereichen berechtigt. Tatsächlich führen komplexe Verwaltungsprozesse und eine Vielzahl von Regelungen dazu, dass die Effizienz des Systems oft beeinträchtigt wird. Dies kann dazu führen, dass Leistungen nicht zeitgerecht oder zielgenau bei den Bedürftigen ankommen. Es ist wichtig, dass wir sowohl die Strukturen als auch die Prozesse im System überdenken, um eine zugänglichere und weniger komplizierte Gestaltung der Sozialleistungen zu erreichen. Eine Verschlankung und Digitalisierung der Verwaltungsverfahren könnte hierbei ein wesentlicher Schritt sein.

NJW: Was sind die wesentlichen Ursachen für den immensen Verwaltungsaufwand?

Penteridis: Einer der Hauptgründe ist die komplexe Gesetzeslage, die dem Grundsatz der Einzelfallgerechtigkeit genügen muss und somit individuelle Berechnungen erfordert. Hinzu kommt die föderale Struktur Deutschlands, die dazu führt, dass Bundesländer und Kommunen eigene Vorgaben und Verfahren haben können, was die Einheitlichkeit und Effizienz des Systems beeinträchtigt. Des Weiteren spielt der Datenschutz eine bedeutende Rolle. Die strengen Datenschutzbestimmungen sind zwar essenziell für den Schutz persönlicher Informationen, führen jedoch auch zu Einschränkungen bei der Datenübermittlung zwischen verschiedenen Behörden. Dies kann zu Doppelarbeiten und Verzögerungen führen, da Informationen nicht nahtlos geteilt werden können und häufig mehrfache Anfragen nötig sind.

NJW: Ließen sich hier mithilfe der Digitalisierung nicht relativ schnell Verbesserungen erzielen?

Penteridis: Auf jeden Fall. Nehmen Sie nur die digitale Antragstellung als Beispiel: Durch Online-Formulare und automatisierte Prozesse könnte der Antrag auf Sozialleistungen erheblich beschleunigt und vereinfacht werden. Ein weiteres Beispiel ist die digitale Vernetzung zwischen verschiedenen Behörden, die den Informationsaustausch erleichtern und beschleunigen würde, so dass Doppelarbeiten und redundante Datenerfassungen vermieden werden – wie etwa zwischen Kranken-, Rentenkassen und Sozialämtern.

NJW: Warum werden diese Möglichkeiten dann nicht konsequenter genutzt?

Penteridis: Weil dies oft durch verschiedene Faktoren behindert wird. Einerseits existieren Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes und der Datensicherheit. Andererseits sind die Anfangsinvestitionen für die Implementierung umfassender digitaler Systeme erheblich, und es besteht oft Unsicherheit hinsichtlich der langfristigen Finanzierung solcher Projekte. Hinzu kommt der Schulungsbedarf für Mitarbeiter, die die neue Systeme effektiv nutzen sollen, was zusätzliche Ressourcen erfordert. Trotz dieser Herausforderungen ist es entscheidend, dass die Digitalisierung vorangetrieben wird, um die Effizienz und Zugänglichkeit des Sozialleistungssystems zu verbessern.

NJW: Welchen Anteil hat der Gesetzgeber, dass im Laufe der Jahre der Sozialleistungsvollzug in Deutschland immer komplexer wurde?

Penteridis: Der Gesetzgeber trägt maßgeblich zur Komplexität des Sozialleistungsvollzugs in Deutschland bei, insbesondere durch den politischen Willen, nahezu jeden denkbaren Einzelfall durch spezifische Ausnahme- und Sonderregelungen abzudecken. Dieser Ansatz resultiert oft aus dem Bestreben, spezifische Wählergruppen zu berücksichtigen, was zu immer neuen Detailregelungen führt. Ein Beispiel hierfür ist die Sozialgesetzgebung im Bereich der Rentenrechts, ich erinnere an die Rente mit 63, die Mütterrente und die Grundrente. Jedes dieser Projekte hatte die Wählergruppen unterschiedlicher Parteien im Blick. Um eine möglichst gerechte Behandlung unterschiedlicher Lebens- und Arbeitsumstände zu gewährleisten, wurden zahlreiche Sonderregelungen geschaffen. Diese sollen zwar einerseits Flexibilität im Umgang mit individuellen Fällen bieten, führen aber andererseits zu einem enormen Verwaltungsaufwand und zu Verzögerungen in der Bearbeitung von Anträgen – und zu Ausgaben, die künftige Generationen erheblich belasten werden. Diese Überregulierung erschwert nicht nur den effizienten Vollzug von Sozialleistungen, sondern macht das System auch für Nutzer schwer verständlich und zugänglich. Eine Reduzierung von Sonderregelungen und eine stärkere Fokussierung auf vereinfachte, klar verständliche Regelwerke könnte den Sozialleistungsvollzug wesentlich praktikabler, effizienter und im Ergebnis auch günstiger gestalten.

NJW: Pauschalisieren, Automatisieren und Standardisieren lautet eine der Empfehlungen des NKR. Birgt das nicht auch das Risiko des Leistungsmissbrauchs?

Penteridis: Kein System ist absolut sicher vor Missbrauch – auch nicht das jetzige System. Um diese Risiken zu minimieren, ist es entscheidend, robuste Sicherheitsmaßnahmen und Kontrollmechanismen zu integrieren. Hierzu kann auch die Digitalisierung in Form der Künstlichen Intelligenz einen Beitrag leisten. Dazu gehören fortgeschrittene Analyse- und Überwachungstools, die ungewöhnliche Muster erkennen und auf Anomalien hinweisen können. Zudem ist eine regelmäßige Überprüfung und Anpassung der Algorithmen erforderlich, um sicherzustellen, dass sie aktuell bleiben und nicht ausgenutzt werden. Insgesamt sollten Pauschalisierung und Automatisierung nicht als alleinige Lösungen gesehen werden, sondern als Teil eines umfassenden Ansatzes, der auch adäquate Überwachungs- und Kontrollsysteme umfasst, um Missbrauch zu verhindern und gleichzeitig die Effizienz zu steigern.

NJW: Wie kann eine Vereinfachung der Sozialleistungsverwaltung darüber hinaus gelingen?

Penteridis: Dies kann durch strategische Maßnahmen erreicht werden, die darauf abzielen, die Komplexität zu reduzieren, die Effizienz zu steigern und die Zugänglichkeit für die Bürger zu verbessern. Die drei wichtigsten Ansatzpunkte sind: 1. Digitalisierung und Automatisierung: Der verstärkte Einsatz von digitalen Technologien kann viele Prozesse automatisieren, was die Bearbeitungszeiten verkürzt und die Fehleranfälligkeit reduziert. Online-Portale für Anträge und Informationen verbessern die Nutzerfreundlichkeit und ermöglichen einen schnelleren Zugriff auf Leistungen. 2. Verbesserung der Datenverwaltung: Eine zentrale Datenbank, in der alle relevanten Informationen gespeichert sind, würde den Informationsaustausch zwischen verschiedenen Behörden und Institutionen erleichtern, Doppelarbeiten vermeiden und eine effizientere Datenverarbeitung ermöglichen. 3. Feedback und kontinuierliche Verbesserung: Die Einführung eines Feedbacksystems, das es den Bürgern ermöglicht, ihre Erfahrungen mit dem Sozialsystem zu teilen, könnte wichtige Einblicke für weitere Verbesserungen bieten. Regelmäßige Überprüfungen und Anpassungen der Verwaltungsprozesse sollten auf Basis dieses Feedbacks durchgeführt werden.

NJW: Mal ganz grundlegend: Lässt sich das, was der NKR moniert, überhaupt noch im Rahmen einer Reform beheben? Oder muss unser Sozialleistungssystem nicht grundlegend neu aufgestellt werden, um zukunftsfähig zu bleiben?

Penteridis: Ich meine, dass ein paar Reformen nicht ausreichen. Wenn es so weitergeht, fahren wir den Karren insbesondere wegen der finanziellen Herausforderungen vor die Wand. Es ist notwendig, einen offenen und umfassenden Diskurs über die Zukunft des Sozialsystems zu führen, der alle gesellschaftlichen Gruppen ein- und innovative Lösungen nicht ausschließt. Dieser Prozess würde Mut und eine klare Vision insbesondere von der Politik erfordern. Die Herausforderungen einer solchen Neugestaltung sind immens, sowohl politisch als auch rechtlich und gesellschaftlich. Es ist jedoch nicht unmöglich. Für alle Akteure gilt: Mut ist notwendig. Denn Mut ist wie Veränderung, nur früher.

Nikolaos Penteridis ist Fachanwalt für Versicherungsrecht, für Medizinrecht sowie für Sozialrecht in der Paderborner Kanzlei Melzer Penteridis Kampe. Seit 2013 engagiert er sich als Dozent in der Anwaltsfortbildung sowie seit 2018 als Vorsitzender in der ARGE Sozialrecht im Deutschen Anwaltverein (DAV).

Dieser Inhalt ist zuerst in der NJW erschienen. Sie möchten die NJW kostenlos testen? Jetzt vier Wochen gratis testen inkl. Online-Modul NJWDirekt

Interview: Tobias Freudenberg / Monika Spiekermann.