Interview
Deutschland vor dem IGH
Interview
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Nach dem Terrorangriff der Hamas am 7.10.​2023 reagierte die deutsche Politik umgehend: „In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz: den Platz an der Seite Israels“, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag. Doch angesichts der katastrophalen humanitären Lage im Gaza-Streifen steht die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands mit dem jüdischen Staat zunehmend in der Kritik; Nicaragua hat die Bundesrepublik sogar deshalb vor dem IGH, dem International Court of Justice, in Den Haag verklagt. 

24. Apr 2024

Welche Vorwürfe liegen diesem Verfahren zugrunde? Und was bedeutet es für die Haltung Deutschlands zu Israel? Fragen an Prof. Dr. Thomas Kleinlein, Direktor des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

NJW: Deutschland muss sich aktuell vor dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen verantworten. Warum?

Kleinlein: Nicaragua macht unter anderem angebliche Verstöße Deutschlands gegen Art. I Völkermordkonvention (VMK), Art. 1 des IV. Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen (GA IV) und andere Normen des humanitären Völkerrechts (Recht des bewaffneten Konflikts) geltend. In Art. I VMK verpflichten sich die Vertragsparteien, Völkermord zu verhüten und zu bestrafen. Der gemeinsame Art. 1 GA I–IV verpflichtet die Vertragsparteien, das Abkommen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen. In der Sache lautet der Vorwurf etwa, Deutschland habe es nicht nur unterlassen, einen Völkermord zu verhindern, sondern Israel auch Hilfe geleistet. Diese Hilfe sieht Nicaragua insbesondere in der Lieferung von Rüstungsgütern, die bei einem Völkermord durch Israel zum Einsatz kämen, sowie in der Einstellung der finanziellen Unterstützung des UN-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Zudem stelle Deutschland völkerrechtswidrig die Einhaltung des IV. Genfer Abkommens und der „rules of elementary considerations of humanity“ nicht sicher und leiste Hilfe etwa zu schweren Verstößen gegen die Genfer Abkommen.

NJW: Wie bewerten Sie diese Vorwürfe?

Kleinlein: Das ist differenziert zu beurteilen. Der Tatsachenvortrag Nicaraguas ist freilich recht pauschal. Rechtlich stößt das Begehren Nicaraguas auf einige prozessuale und materiellrechtliche Hürden. Beides bildet die Grundlage für Prognosen zum Ausgang des Hauptsacheverfahrens, bei denen allerdings auch zu berücksichtigen ist, dass einige der aufgeworfenen Rechtsfragen noch nicht abschließend geklärt sind.

NJW: Dann lassen Sie uns zunächst über die prozessualen Hürden sprechen.

Kleinlein: Prozessualer Knackpunkt ist das indispensable third party principle. Das IGH-Statut macht die Zuständigkeit von der Zustimmung der Parteien abhängig. Danach müssen Drittstaaten, die an einem Rechtsstreit in der Sache ein besonderes Interesse haben, nicht zugestimmt haben. Wird der besonders interessierte Drittstaat nicht mitverklagt, hat er auch nicht die Verfahrensrechte einer Partei. Daher schränkte der IGH erstmals 1954 im Monetary Gold-Fall seine Befugnis zur Entscheidung in der Sache für den Fall ein, dass die rechtlichen Interessen eines Drittstaats in besonderer Weise berührt sind. Wenn „very subject matter of the decision“ also die Frage ist, ob Israel als Drittstaat die Völkermordkonvention und humanitäres Völkerrecht verletzt, dann könnte Nicaragua schon aus verfahrensrechtlichen Gründen keinen Erfolg haben. Das gilt jedenfalls solange, bis der IGH nicht in dem parallelen Verfahren Südafrika/Israel, das indes nur Verletzungen der Völkermordkonvention zum Gegenstand hat, zu einer Feststellung dazu gelangt ist. Soweit es um die angebliche Hilfe Deutschlands zum Völkermord Israels geht, könnten dessen völkerrechtswidrigen Handlungen ebenfalls „very subject matter of the decision“ sein.

NJW: Und welche materiellrechtlichen Hürden stehen dem Begehren entgegen?

Kleinlein: Bislang hat der IGH die Plausibilität des Völkermords noch nicht festgestellt. Seine Feststellung dazu in seiner Eilentscheidung vom 26.1. in dem Verfahren Südafrika/Israel bezieht sich allgemeiner auch auf sämtliche in Art. III VMK genannten verbotenen Handlungen. Inzwischen hat sich die Situation weiterentwickelt, wovon auch die erneute Anordnung vom 28.3. zeugt. Nach der IGH-Rechtsprechung ist allerdings der Maßstab für den Nachweis der Vernichtungsabsicht beim Völkermord sehr hoch („einzige vernünftige Schlussfolgerung“).

NJW: Auch andere Staaten unterstützen Israel politisch, militärisch und finanziell, allen voran die USA. Warum richtet sich die Klage nur gegen Deutschland?

Kleinlein: Deutschland hat sich nicht zuletzt auch mit seiner Ankündigung exponiert, im Verfahren Südafrika/Israel zugunsten Israels zu intervenieren. Nicaragua informierte im Februar neben Deutschland etwa auch Kanada und die Niederlande darüber, dass es sie unter anderem wegen Verstößen gegen die Völkermordkonvention und das humanitäre Völkerrecht zur Verantwortung ziehen wolle. Allerdings hat die niederländische Regierung die Lieferung von Ersatzteilen für Kampfjets an Israel nach einer entsprechenden Entscheidung des Berufungsgerichts Den Haag bereits vor der Klageerhebung Nicaraguas gegen Deutschland (vorläufig) eingestellt. Auch Kanada hat die Waffenlieferungen an Israel inzwischen beendet. Für eine Klage gegen die USA kann die Zuständigkeit des IGH nicht begründet werden.

NJW: Nicaragua möchte außerdem in einem Eilverfahren erreichen, dass der IGH Deutschland unter anderem dazu auffordert, seine militärische Unterstützung Israels auszusetzen. Ist das realistisch?

Kleinlein: Die Aussichten Nicaraguas, eine einstweiligee Anordnung zu erwirken, sind sicher größer als die Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Dazu muss der IGH lediglich prima facie zuständig sein, und es ist nicht ausgeschlossen, dass er das indispensable third party principle in diesem Verfahrensstadium nicht anwendet. Zudem müssen die Rechte, deren Schutz beantragt wird, „plausibel“ sein und in hinreichendem Zusammenhang mit den beantragten vorsorglichen Maßnahmen stehen. Schließlich muss eine „tatsächliche und unmittelbare Gefahr“ eines nicht wiedergutzumachenden Schadens für diese Rechte bestehen.

NJW: Wäre es nicht naheliegender gewesen, dass Nicaragua zunächst Israel wegen des Vorwurfs des Völkermords verklagt hätte und erst dann Deutschland?

Kleinlein: Sie sprechen damit die Problematik der „indispensable third party“ an. Tatsächlich hat Nicaragua am 23.1. einen Antrag auf Beitritt als Partei zum Verfahren Südafrika/Israel gestellt, ein Novum.

NJW: Warum klagt ausgerechnet Nicaragua?

Kleinlein: Die Klage folgt dem Muster anderer „public interest cases“ auf der Grundlage der Völkermordkonvention (Gambia/Myanmar, Südafrika/Israel). Nicaragua versteht sich nicht zuletzt aufgrund historischer Bindungen als Anwalt der Palästinenser. Die Klage wurde aber wohl kaum zufällig unmittelbar nach Vorlage eines UN-Berichts über die verheerende Menschenrechtslage in Nicaragua eingereicht.

NJW: Deutschland beteiligt sich auch an der internationalen Luftbrücke für den Gazastreifen. Hat dies Einfluss auf das Verfahren?

Kleinlein: Die vielfältigen Unterstützungsleistungen Deutschlands für den Gazastreifen können dazu beitragen, die Vorwürfe Nicaraguas zu entkräften, soweit sie an die Einstellung der Mittelgewährung an das UNRWA anknüpfen.

NJW: Unterstellen wir mal, die Klage hat Erfolg: Welche (Rechts-)Folgen wären damit verbunden?

Kleinlein: Deutschland müsste nach den Anträgen Nicaraguas die aus dessen Sicht völkerrechtswidrigen Handlungen unverzüglich beenden, deren Nichtwiederholung garantieren und Wiedergutmachung leisten.

NJW: Wie geht es nun weiter bzw. wie kann oder muss die Bundesrepublik nun reagieren?

Kleinlein: Deutschland hat nicht nur die Ablehnung des Antrags auf Anordnung vorläufiger Maßnahmen beantragt, sondern auch die Löschung der Sache im Register. Andernfalls schließt sich die Verfahrensphase an, in der Deutschland sogenannte vorgängige prozessuale Einreden einreichen kann.

Seit dem Wintersemester 2023/2024 lehrt Prof. Dr. Thomas Kleinlein an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sein besonderes Forschungsinteresse gilt unter anderem den Menschenrechten sowie dem Recht internationaler Organisationen.

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Interview: Monika Spiekermann.