Interview
"Es geht den Sprayern um Fame"
Interview
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Berlin gilt als heimliche Hauptstadt des Graffiti in Europa. Und das aus gutem Grund, gehören doch die mal mehr, mal weniger künstlerisch anspruchsvollen Bilder zum Stadtbild wie das Brandenburger Tor, der Reichstag und die gelb-roten S-Bahnen. Doch an den Kunstwerken scheiden sich die Geister. Vor rund vier Jahren wurde deshalb bei den Berliner Ermittlungsbehörden eine spezielle Task Force gebildet, der Amtsanwältin Helene Wagner angehört. Ein Gespräch über Ermittlungen in einer ganz speziellen Szene.

10. Apr 2024

NJW: Weshalb braucht es für Berlins Sprayer eine eigene Task Force?

Wagner: Berlin ist sozusagen das New York Europas. Die Geschichte begann bereits in den 1980er Jahren, als die Sprüherkultur aus den USA in die Hauptstadt überschwappte. Nach der Wende ging es dann richtig los, und das Phänomen Graffiti hält sich in der Hauptstadt bis heute. In der Graffitiszene ist es schon etwas Besonderes, sich in Berlin zu verewigen. Dies führt dazu, dass nicht nur die ortansässigen Sprayer und Sprayerinnen hier tätig werden, sondern auch zahlreiche Touristen den Weg in die Hauptstadt finden. Neben Paris ist Berlin tatsächlich die Stadt in Europa, in der die meisten Spraydosen verkauft werden. Letztes Jahr konnten wir insgesamt 4.152 Ermittlungsverfahren mit Graffitibezug verzeichnen, davon konnten in 661 Fällen Tatverdächtige ermittelt werden, und 3.491 Verfahren richten sich gegen unbekannte Täter bzw. Täterinnen.

NJW: Wie sind Sie personell ausgestattet?

Wagner: Die Sondersachbearbeitung in Graffiti-Verfahren übernehmen bei der Amtsanwaltschaft Berlin derzeit fünf Kolleginnen und Kollegen. Diese Verfahren machen im Moment ca. 15 % unseres Dezernats aus. Wir ermitteln vorwiegend bei sogenanntem Trainwriting, also bei Graffiti auf Zügen des öffentlichen Personennahverkehrs, der Königsdisziplin in der Szene.

NJW: Gibt es den typischen Täter, die typische Täterin?

Wagner: Das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Bei Graffiti denken viele an Jugendliche und Heranwachsende, die spontan irgendwo ihren Namen oder den Namen der Crew taggen. Diese Täter mag es zwar ebenfalls geben, allerdings ist die Amtsanwaltschaft in Berlin grundsätzlich nicht für Verfahren gegen Beschuldigte dieser Altersklasse zuständig. Graffiti wird zwar oft als Jugendkultur wahrgenommen, aber dort beginnt die Reise meist erst. Einige werden erwischt und lassen es dann irgendwann sein. Andere machen immer weiter. Täterinnen sind hier durchaus selten. In den letzten Jahren hatte ich in meinem Dezernat tatsächlich nur drei Sprayerinnen. Die Beschuldigten in unseren Verfahren sind oftmals männlich und stehen meist mitten im Leben.

NJW: Was können Sie uns zur Altersstruktur der Täter sagen?

Wagner: Sie sind häufig zwischen Mitte zwanzig und Mitte vierzig, haben oftmals einen kreativen Beruf oder gehen einem kreativen Hobby nach und sind überwiegend auch künstlerisch nicht unbegabt. Als sogenannter Trainwriter muss man bereit sein, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, denn die Sprayer müssen sich nach dem Nahverkehrssystem richten. Sie müssen sich das so vorstellen: Der verheiratete Familienvater stellt sich einen Wecker und steigt mitten in der Nacht in den U-Bahntunnel, um dort einen Zug zu bemalen. Anschließend legt er sich in den frühen Morgenstunden, vor der Arbeit, auf die Lauer, um ein besonders gutes Foto von seinem Werk zu machen, das die gesamte Aktion abrundet. Es ist für viele sehr wichtig, ihre Werke zu dokumentieren und teilweise auch in den sozialen Netzwerken oder szenetypischen Printmedien zu veröffentlichen.

NJW: Welche Delikte verwirklichen die Täter dabei?

Wagner: Zum einen die Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB, wobei überwiegend dessen Absatz 2 zur Anwendung kommt. Demnach begeht eine Sachbeschädigung, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert. Durch das Merkmal „nicht nur unerheblich“ sollen nach dem gesetzgeberischen Willen nur geringfügige Veränderungen an der Sache aus dem Tatbestand ausgeschlossen werden, wie dies bei einer nur losen Verbindung zwischen dem Tatobjekt und dem Mittel der Veränderung besteht. Es bedarf daher stets Feststellungen zur Größe und Gestalt der Farbauftragungen, nicht nur zu deren äußeren Ausmaßen, sondern auch zu der für die rechtliche Bewertung gegebenenfalls bedeutsamen Ausgestaltung in der Fläche als auch zu der dadurch bewirkten optischen Veränderung der betroffenen Fläche und deren Dauerhaftigkeit. Problematisch kann das Tatbestandsmerkmal der Unerheblichkeit sein, wenn es zu Besprühungen bereits verunstalteter Flächen kommt. Eine Strafbarkeit gemäß § 304 II StGB kommt ebenfalls in Betracht, wenn Gegenstände betroffen sind, die dem öffentlichen Nutzen dienen. Dies ist bei den verschiedenen Fahrzeugtypen des öffentlichen Personennahverkehrs der Fall. Beim Trainwriting ist zumeist tateinheitlich auch eine Strafbarkeit wegen Hausfriedensbruchs gemäß § 123 StGB gegeben. Zudem kann in bestimmten Konstellationen auch eine Strafbarkeit wegen gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr gemäß § 315 I Nr. 2 oder Nr. 4 StGB in Betracht kommen.

NJW: Was macht die Ermittlungen so schwierig, wenn Sie den Täter nicht auf frischer Tat ertappen?

Wagner: In diesen Fällen müssen wir eine stichhaltige Indizienkette präsentieren, die belegt, dass auch die Taten ohne Täterfeststellung von dem jeweiligen Sprayer begangen worden sind. Relevant sind Erkenntnisse aus früheren Verfahren, Belastungen durch Mittäter oder die Beweismittel aus etwaigen Durchsuchungen. Die Schriftzüge sind auch anhand des "Styles" zu analysieren und gegenüberzustellen. Es finden sich oft markante Ausführungsdetails in den jeweiligen Pieces vom gleichen Urheber. Selbstverständlich entwickelt sich der Style der Sprayer auch im Laufe der Zeit, jedoch werden bestimmte Schwünge der Buchstaben oder Gestaltungsmerkmale oftmals beibehalten. Die Rechtsprechung, die sich mit der Frage der Zuordnung von einem "Tag" oder "Piece" zu einer bestimmen Person befasst hat, ist überwiegend in die Jahre gekommen. Wobei man bei genauer Betrachtung der Entscheidungen erkennt, dass die Gerichte bereits feststellen konnten, dass in der Regel ein "Tag" nur von einem Sprayer benutzt wird. Angesichts der Gepflogenheiten in der Graffiti-Szene und der Bedeutung, die dem "Tag" als individuelle Signatur zukommt, ist sein Beweiswert mit derjenigen einer individuellen Unterschrift vergleichbar.

NJW: Und wie ist die Beweislage, wenn ein Graffiti von mehreren Sprayern stammt?

Wagner: Bei einer "Crew"-Signatur ist die tatsächlich deutlich schwieriger, da sie für sich betrachtet keinen individuellen Rückschluss auf die Urheberschaft eines Sprayers zulässt, weil sie von mehreren Sprühern verwendet wird und die personellen Zusammensetzungen der "Crews" einer gewissen Fluktuation unterliegen. Jedoch ist eine eindeutige Zuordnung zu einem "Writer" insbesondere dann möglich, wenn der "Tag"-Name als "Piece" in Verbindung mit einer "Crew"-Bezeichnung gesprüht wird. Uns ist bisher kein Fall bekannt geworden, in dem innerhalb einer "Crew" von zwei Mitgliedern derselbe "Tag"-Name, also dasselbe individuelle Pseudonym, verwendet wurde. Wir haben bereits aktuellere landgerichtliche Entscheidungen erwirkt, die die Möglichkeit der Zuordnung bejahen.

NJW: Wie ordnen Sie ein mit einem Künstlernamen signiertes Graffiti eigentlich einem Sprayer zu?

Wagner: Es gibt ganz unterschiedliche Ermittlungsansätze. Die Auswertung von Handys, Laptops oder Computern liefert oftmals umfangreiche Erkenntnisse. Die Entnahme von DNA-Proben ist ebenfalls bereits landgerichtlich entschieden worden und führte zur Zuordnung einiger Taten. In anderen Ermittlungsverfahren sind etwa Observationsmaßnahmen erfolgt.

NJW: Ihre "Kunden" gehören einer sehr speziellen Szene an. Gilt das auch für deren Verteidiger?

Wagner: Ja! Und sie sind sehr gut in dem, was sie tun. Verfahren, in denen nicht kontrovers verhandelt wird, sind selten, zumal seitens der Verteidigung die StPO bestmöglich ausgeschöpft wird, um ein akzeptables Urteil zu erzielen. Wir sehen das aber sportlich und wissen inzwischen ganz gut damit umzugehen.

Strafrecht war schon immer das Steckenpferd von Amtsanwältin Helene Wagner. Deshalb hat sie als Justizfachwirtin bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück angefangen. Dabei wurde ihr schnell klar, dass Ziel die Amtsanwaltslaufbahn sein soll. Das Rechtspflegestudium absolvierte sie in Berlin. Anschließend war sie als Diplom-Rechtspflegerin beim AG Köpenick und bei der Senatsverwaltung für Justiz tätig, seit 2019 bei der Amtsanwaltschaft Berlin.

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Interview: Monika Spiekermann.